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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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nicht fortzudauern hoffen können. Hieraus folgt, dass besagtes Einverständnis durch das Mittel erlangt werden muss, das am schnellsten und sichersten zur Hand ist. Und das heißt … Gott .
    Daher frage ich euch heute Abend. Hat Gott jemals zu euch ge
sprochen? Sein Mund an euerm Ohr? Oder war Gott bloß die Birkenrute, die euch auf die Knie gezwungen hat?«
     
    Sie schwiegen eine gute Weile. Nicht, wie er wohl wusste, aus Entrüstung – die kleine Akademie hatte schon viele Male das Äußerste gewagt –, sondern weil sie die bündigste Antwort suchten.
    Es war Marlowe, der schließlich eine Kerze, Stift und Papier ergriff und zu schreiben begann.
    »Wir führen das jetzt aus«, sagte er. »Bis zu seinem Ende , sei es natürlich oder unnatürlich. Und wir tun es gemeinsam .«
    Und so schrieben sie in dieser Nacht ein Gedicht.
    Es war in gereimten fünfhebigen Jamben komponiert. Marlowe, der Angeber, hatte sich für die Form eines petrarkischen Sonetts ausgesprochen, aber die anderen hörten nicht auf ihn und warfen Zeile um Zeile in das Gemisch – sogar Marlowes Gefolgsmann steuerte ein, zwei Wendungen bei –, und das Gedicht wuchs über die Grenzen hinaus, die sie ihm bestimmt hatten. Und während eine fertige Seite noch mit Streusand beworfen wurde, zog Marlowe schon das nächste Blatt hervor und schrieb weiter.
    Es war anderthalb Stunden nach Tagesanbruch, als er die letzte Zeile niederschrieb. Mit fiebrigen Augen und zitternden Händen erhob er sich und hielt ihnen die Blätter hin.
    »Sehet! Unser dunkler Schatz!«
    Und dann begann er mit fester Stimme gemessen zu lesen. Erst da erfassten sie, wie weit sie die Grenzen überschritten hatten.
     
    Ein kluger und dem Pöbel überlegner Mann,
    Wissend, dass das Gesetz im Stillen nicht gedeiht,
    Sondern befolget sein will, kam so weit,
    Dass er Gott, Himmel, Höll' und Frömmigkeit
    Obgleich es bloß Schimären war'n, ersann.
     
    Ohne sich zu mäßigen, sprach Marlowe immer kecker, je länger er las, und seine Stimme schwang sich sogar noch höher auf, als er einen Zweizeiler vortrug, der seine Erfindung war.
     
    … Nur böser Spuk, die Welt in Furcht zu bringen
    Und brav sie unters Joch zu zwingen.
     
    Das erste Tageslicht lugte gerade durch die Vorhänge, die Kerzen waren zu Stummeln geschrumpft, da gelangte Marlowe schließlich zur letzten Stophe.
     
    In Todes leerem Reich herrscht ew'ge Nacht,
    Ist man entzogen böser Feinde Macht.
    Nichts setzt den Bösewicht in Schrecken,
    So wenig den, der keinen Dreck am Stecken.
    Und weil der Tod mir füllet keine Taschen,
    Will ich, solang ich leb, nach allem haschen.
     
    Sie hatten es genauso gemacht, wie Marlowe es gewollt hatte. Sie hatten es ausgeführt – und kein Ende gefunden.
    Es war Ralegh, welcher nach langem Schweigen sagte:
    »Die beste Würdigung unserer Mühen wäre vielleicht, es zu verbrennen.«
    Und mit fast schüchternem Lächeln fügte er hinzu:
    »Damit wir nicht selbst im Feuer enden.«
    Und das war die letzte Überraschung des Abends. Marlowes Gefolgsmann, so schweigsam während des größten Teils der Nacht, rührte sich als Erster, riss das Papier vom Tisch und schleuderte es ins Feuer.
    Eine einzelne Träne rann Christopher Marlowes Wange hinab, als er sah, wie die Arbeit einer Nacht verging.
     
    Es ist ihnen nachzusehen, dass sie glaubten, damit wäre die Sache vergessen gewesen. Aber drei Jahre später machte eine von einem Anonymus verfasste Tragödie in London die Runde. Ein abscheuliches dramatisches Werk, betitelt The First Part of the Tragicall Raigne of Selimus . Es handelte von einem türkischen Tyrannen, der die Ermordung seines Vaters just mit dem Gedicht erklärt, das die Mitglieder der Akademie in der so lange zurückliegenden Nacht in Sherborne geschrieben hatten.
    Wie hatte der dunkle Schatz seine Einäscherung überstanden?
Und wer hatte seine Veröffentlichung besorgt? Marlowe war schon tot. Weder Ralegh noch Northumberland hätten gewagt, es ans Licht zu ziehen, ebenso wenig Harriot. Als einziger Verdächtiger blieb der sanfte junge Mann, den Marlowe nach Sherborne mitgebracht hatte.
    Und mit einem Mal rankte sich ein ungeahnter Verdacht um die fast stumme Gestalt. Hatte sich der Fremde ihre Zeilen die ganze Nacht über eingeprägt? Oder hatte er den dunklen Schatz in letzter Minute mit unglaublicher Fingerfertigkeit unter seinem Mantel verborgen und ein anderes Blatt ins Feuer geworfen? Übernahm er womöglich sogar jetzt Marlowes bevorzugte Form – die Tragödie

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