Algebra der Nacht
etwas ins Gedächtnis gerufen, was ich dich sowieso fragen wollte.«
»Ja?«
»Was ist aus unserem dunklen Schatz geworden?«
Dieselbe Frage hat der Earl of Northumberland Harriot, viele Wochen liegt das nun zurück, ebenfalls gestellt. Als der Fährmann ihn wieder flussaufwärts zum Syon House bringt, kehren Harriots Gedanken zurück zu jenem Sommerabend in Sherborne.
Teilnehmer waren nur sie fünf: Harriot, Ralegh, Northumberland, Marlowe … und ein Fremder in ihrer Mitte. Marlowes neuester Gefolgsmann, dem (auf Kits Bitte hin) ein kostbarer Platz im Heiligtum der Akademie gewährt wurde.
Da er noch grün hinter den Ohren und leicht einzuschüchtern
war, saß der junge Mann den längsten Teil der Nacht ein wenig abseits und enthielt sich eigener Bemerkungen. Es war Harriot, der – ganz untypisch für ihn – zuerst das Wort ergriff. Denn er wollte über Virginia sprechen.
»Sir Walter hier möge euch bestätigen, wie mein Auftrag lautete. Den Bestand an solchen Bodenfrüchten und menschlichen Erzeugnissen aufzunehmen, welche sich als Handelsgüter eignen. Spreche ich falsch, Sir Walter?«
»Nein.«
»Zu diesem Zweck unternahm ich ausgedehnte Reisen unter den Algonkin, und mit großem Entzücken. Von Dorf zu Dorf ging ich voran und achtete darauf, mich besonders mit den Priestern vertraut zu machen. Sie begrüßten mich im Allgemeinen aufs freundlichste und waren fasziniert von allem, was ich ihnen zu zeigen hatte: Waffen und mathematische Instrumente. Kompasse und Ferngläser, Astrolabien. Die einfachsten Dinge vermochten große Ehrfurcht einzuflößen. Die Federuhr! Man beachte, dass sie von selbst geht, ohne dass jemand sie in Bewegung versetzt. Ein Hoch auf die Federuhr!
Sie nahmen die magischen Talismane in ihre rauhen Hände und fragten einer wie der andere: Wer hat diese Werke geschaffen, Gott oder Menschen?
Sie sind Menschenwerk , sagte ich. Beeilte mich indes hinzuzufügen, dass diese Menschen wiederum geschaffen und in ihren Werken beseelt wurden von einem großen und allwissenden Gott. Ich ließ es mir angelegen sein, ihnen unsere Bibel zu zeigen. Sie konnten sie selbstverständlich nicht lesen und taten daher, was ihnen zweite Natur ist: Sie rieben sich damit über die Brust, und sie drückten sie sich an die Köpfe, und sie küssten sie wieder und wieder, so entflammt waren sie.
Guter Christ, der ich war, bemühte ich mich darum, sie von ihrem Götzendienst abzubringen. Ich teilte ihnen mit, Gottes Heil leite sich nicht aus dem Buch materiell und aus seiner selbst her, sondern vielmehr aus dem darin befindlichen Inhalt. Welcher, muss ich es sagen, die wahre Lehre von der Erlösung durch Christus ist.
Dieser Unterschied bedeutete ihnen nichts. Die Bibel war ihnen gewiss ein Zauberding – es standen schließlich Wörter darin geschrieben, und sie hatten derlei noch nie gesehen –, aber sie hatte nicht mehr Zauber als die Federuhr. Das Evangelium war – wie soll ich es ausdrücken? – eine weitere Waffe aus unserem englischen Arsenal. Sie besaß denselben Rang wie eine Muskete oder ein Schild.
Und so zog ich diese wilden Priester nach und nach auf Christi Seite. Und wie erreichte ich das? Durch die Macht der göttlichen Offenbarung? Nein. Ich blendete sie mit Tricks. (Moses, der Schwindler, erinnerst du dich, Kit?) Ich trieb mein Spiel mit ihrer Leichtgläubigkeit. Gab vor, unsere Erfindungen seien von Gott gesandt. Ich brachte sie zu dem Glauben, ohne unseren Gott würden ihre Dörfer und ihr Korn der Vernichtung anheimfallen. Und noch als sie sich zum Sterben legten, redete ich ihnen ein, das sei Gottes Wille. Machiavelli hätte nicht mehr von mir erwarten können.
Oh, ihr mögt mit Zorn auf diese Wilden blicken, die so unseren Schafen gleichen. Aber jetzt frage ich euch, meine Freunde. War es denn anders, als ihr und ich zu Gott kamt? Wurden wir nicht als Kinder durch Kunststücke verführt – durch Musik und Weihrauch, durch Zeichen und Omen? Wurden wir nicht durch die Macht geblendet? Unsere Eltern, unsere Priester, unsere Könige und Königinnen, machten sie nicht das göttliche Gesetz für ihre Herrschaft über uns geltend? Waren wir weniger leichtgläubig als die Eingeborenen in Virginia? Weniger flink zu gehorchen?
Vom Tage unserer Geburt an hat man ein Spiel mit uns getrieben. Und wir wurden unterworfen , meine Herren, ebenso wie die Algonkin. Warum? Weil ohne unser Einverständnis, ohne das Einverständnis aller Menschen eine Gesellschaft, eine Kirche, eine Monarchie
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