Algebra der Nacht
–, um seine Macht über die noch lebenden Mitglieder der Schule zur Schau zu stellen?
Das einzig Gute war, dass der Text weder die Akademie noch ihre Mitglieder erwähnte. Hinter den Kulissen jedoch war der Zusammenhang bereits zurechtgezimmert worden. Marlowe wurde vor seiner Ermordung der Häresie und der Blasphemie beschuldigt. Und binnen einiger Wochen nach Publikation des Selimus wurden Ralegh und Harriot vor eine kirchliche Kommission beordert und mussten sich für Atheismus und Apostasie verantworten. Die Beweise waren spärlich, die Anschuldigungen wurden fallengelassen, aber der Makel blieb haften.
Und jetzt, da Sir Walter Ralegh bald wegen Hochverrats vor Gericht gestellt wurde, konnten diese alten Verse ihn durchaus ins Grab bringen.
So ist es kaum verwunderlich, dass er seinen Freund Harriot auf dem Dach des Towers fragt:
»Was ist aus unserem dunklen Schatz geworden?«
Und dass Harriot mit betrübtem Herzen antwortet:
»Er ist für uns heute genauso verloren, wie er es damals war.«
»Du willst sagen, er befindet sich noch immer im Besitz dieses Herrn?«
»Nach meiner Auffassung ja.«
Ralegh schaut einem Möwenpaar zu, dass zwischen den träge pendelnden Schiffsmasten seine Kreise zieht. Dann lacht er zu Harriots Überraschung schallend los.
»Kit hätte besser aufpassen sollen bei der Auswahl seiner Bettgespielen, meinst du nicht?«
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A ugust 1603: London liegt im Sterben.
Die Bewohner der Stadt sterben zu Tausenden. Einer nach dem anderen, Stunde um Stunde. Sie sterben in Wirtshäusern, in verriegelten und verrammelten Häusern. Im Gebüsch und in Gräben und Gassen. Vor Kirchenportalen.
Manchmal kündigt sich die Pest einen Tag, manchmal nur wenige Minuten vorher an. In den Straßen, in denen sich Wochen zuvor bei König Jakobs Krönung die Menge drängte, herrscht jetzt geisterhafte Stille. Wer Besorgungen zu erledigen hat, hält sich in der Straßenmitte, um eine Ansteckung zu vermeiden – den Geräuschen aber entgeht man nicht. Es ist eine Threnodie des Stöhnens, in die sich dann und wann ein erstaunter Aufschrei mischt, so als habe der Tod den Kranken gezwackt.
König Jakob ist weit weg, und die reichsten Londoner haben die Stadt längst verlassen. Die Armen, die keine andere Wahl haben, schleppen sich ziellos aufs Land hinaus. Kein Haus und kein Dorf will sie aufnehmen, und viele kommen am Straßenrand, auf Feldern, in Scheunen ums Leben. Ein Mann, der einen Karren hinter sich herzieht, schafft es bis Syon Reach, sieben Meilen weit, bevor die Pest ihn einholt. Er stirbt im Unrat am Flussufer, um halb neun Uhr abends, begleitet vom Gesang der Lerchen.
Nahebei, in Syon House, hat der Earl of Northumberland seine Absicht kundgetan, mit dem gesamten Haushalt ins Tynemouth Castle umzuziehen. Alle Angehörigen seines Gefolges, ob hoch oder niedrig, sind gehalten, sich an die Arbeit zu machen. Sogar
die drei Gelehrten, die unter seinem Schutz und Schirm leben, sogar sie müssen ihre üblichen Aufgaben ruhen lassen. Robert Hues überwacht das Verpacken von Geschirr und Kristall. William Warner ist für die wichtigsten Kunstwerke verantwortlich, und Thomas Harriot wird die Aufsicht über die Bücher übertragen.
Eine Bibliothek wie die des Earls kann schließlich nicht einem einfachen Diener anvertraut werden. Man stelle sich vor, was auf der Straße passieren kann. Der Rollkutscher nickt ein, das Rad gerät in den Graben … die gesammelte Menge der Weisheit des Westens schwimmt in Schlamm und Schafskot.
»Ich muss dich bitten, Tom«, sagt der Earl. »Niemand sonst würde die Wunde so spüren.«
Und so stellt Harriot eine repräsentative Auswahl von zweihundert Bänden zusammen, setzt sie in ein Bett aus Stroh, beaufsichtigt ihre Verladung, deckt sie mit drei Planen ab … und begleitet sie auf ihrer Reise bis Northumbria.
Es ist für alle eine Dreitagesreise. Und während dieser Zeit legt sich eine unruhige Stille über Harriots Haus. Tagsüber gehören die Räume den Gollivers, die abwechselnd packen und querschießen. Als es Abend wird, schreitet Margaret über die Dielen des Laboratoriums, lässt die Flammen sogar noch höher lodern als sonst.
Sie bekommt die Gollivers nicht zu Gesicht, und sie gehen ihr ebenso beflissen aus dem Weg. Umso erstaunter ist sie, als Mrs. Golliver einmal auf sie wartet, ein Silbertablett in der Hand, auf dem ein einziges Blatt Hadernpapier liegt, doppelt gefaltet und mit einem roten Wachsstempel versiegelt.
»Für dich, nehme ich
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