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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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weißen Gegenstand hinten im Herd.
    Er steht langsam auf, geht zu den Resten des gestrigen Feuers. Ein Stück Papier liegt dort, durch das feuchte Holz vor Zerstörung bewahrt.
    Sein erster Gedanke ist, dass es sich um einen zweiten Brief von ihr handelt. Eine revidierte Fassung des ersten. Sie hat ihre Meinung geändert. Kommt gerade eben zu ihm zurückgeflogen, bittet um Verzeihung für ihre Torheit.
    Aber es ist nicht Margarets Handschrift. Der Brief stammt von einem Unbekannten.
     
    An Miss Crookenshanks,
    Ihre Schwester wünschte Sie in Kenntnis zu setzen, dass Ihre Mutter diesen Mittwoch heimgekehrt ist zu ihrem Schöpfer. Ihr Leiden war beträchtlich, doch von kurzer Dauer. Sie hat sich mit ihrem Gott versöhnt.
    Ich darf Ihnen mein tiefempfu …,
    Reverend …
     
    Die untere Ecke des Bogens ist verbrannt, der Rest des Dokuments lässt an schockierender Klarheit nichts zu wünschen übrig.
    Das Blatt zwischen die Hände gepresst, geht er durch den Korridor in die Küche, wo die Gollivers sitzen, über Becher mit trübem Ale gebeugt. Er legt das Blatt vor sie auf den Tisch. Sieht, wie ihre Augen groß werden. Und sagt mit zitternder Stimme:
    »Da haben Sie nicht genug Obacht gegeben.«
    Wie blöde sie in diesem Moment der Entdeckung werden: ziehen die Köpfe ein, lassen ihre Blicke wandern. Wie in die Enge getriebene Hunde , denkt er.
    »Wenn ich mich nicht irre, war dies der Brief, den Margaret erhalten sollte .«
    Noch immer wollen sie ihn nicht ansehen.
    »Sie haben ihr einen anderen Brief gegeben, nicht wahr? Einen gefälschten Brief. Und sie glauben lassen, ihre Mutter wäre noch am Leben. Und erwarte sie.«
    Harriot erträgt den Anblick ihrer Gesichter jetzt nicht, und so umkreist er sie und sieht von hinten auf ihre wuchtigen Schädel.
    »Ich bin sicher, Sie wissen, was Sie angerichtet haben. Sie haben sie umgebracht , alle beide. So sicher, als hätten sie ihr einen Dolch ins Herz gestoßen.«
    Es ist typisch für sie, dass ihre Mauer beim ersten Anzeichen von Druck wankt.
    » Er war's, er hat's geschrieben.«
    »Meine Idee war's nicht, es war ihre.«
    »Aber mitgemacht hat er gleich.«
    »Ich hätte doch nicht gedacht, dass das das Mädchen es ernst nimmt.«
    »Du hast sie zur Tür hinausgehen lassen, nicht?«
    »Genau wie du , Frau.«
    Harriots Faust saust zwischen ihnen auf den Tisch.
    »Scheusale seid ihr. Alle beide.«
    Er wendet sich ab, sieht zum Küchenfenster hinaus und wartet, bis er sich wieder in der Gewalt hat.
    »Habt ihr Margaret so sehr gehasst?«
    Er rechnet nicht damit, eine Antwort zu erhalten. Und schon gar nicht rechnet er mit dem Schwall Galle, der aus Mrs. Gollivers Kehle aufsteigt.
    » Mich hätten Sie auch für Ihre Zwecke beanspruchen können! Nur einmal! Es ist nicht gerecht! «

Isleworth, England

    September 2009

    45
    C larissas Haut war an an meine gepresst, ihre Beine schlangen sich um meine Hüften. Warm berührte ihr Atem meinen Hals, ihre Hand schmiegte sich an meine Wange, holte mich streichelnd ins Leben zurück … Sie war …
    Kalt wie der Tod.
    Ich wachte auf. Von der Hand an meine Wange. Einer toten Hand.
    Mit einem gellenden Schrei riss ich mich los, sah die Fingerknochen in die Dunkelheit davonsegeln. Ich saß da, rechnete halb damit, dass sie wieder angekrochen kamen, aber die einzige Bewegung ging jetzt von mir aus. Meine Lunge, mein Herz, mein Schädel … ich zitterte am ganzen Leibe vor Kälte und Schmerzen und Schreck.
    Wo bin ich?
    Soweit ich wusste, war ich nicht so sehr abwärts, sondern vielmehr rückwärts gefallen. Durch etwa sechs Jahrhunderte hindurch. Denn dieser kalte und feuchte Raum konnte nur zu der einstigen Abtei gehört haben, auf deren Ruinen sich Syon House erhob.
    Und mit traurigem Lachen wurde mir klar, wie passend der Ort war, an dem ich nun für alle Zeit begraben sein sollte.
    Kein Gedanke an Seamus, der noch oben auf dem Turm wartete. Kein Gedanke an Alonzo, den ich zuletzt gehört hatte, als er sich aus den Fängen der Security von Syon Park zu befreien versuchte. Kein Gedanke an Clarissa und an Bernard Styles. Was
würde passieren, wenn ich ihm nicht bis drei Uhr nachts gegeben hatte, was er haben wollte?
    Nein, meine Erinnerung reichte nur ein Stück zurück und nicht weiter. Und so kehrte ich zu dem Moment – vor fünf Minuten? vor fünfzig? – unmittelbar vor meinem Sturz zurück. Und mit einem Mal fiel mir nachträglich ein, worauf ich gestanden hatte, als unter mir alles nachgab.
    Auf einer Kiste.
    Einer Holzkiste,

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