Algebra der Nacht
metronomische Verlässlichkeit, Henry, die hat mir wirklich gefehlt«, sagte Alonzo. »Wie ihr seht«, fuhr er fort und schlug das Blatt um, »habe ich mir die Freiheit genommen, Harriots Gekritzel einmal selbst zu notieren. Das hier hat er direkt unter die Karte geschrieben.«
CIIOWVTKSIYFHIYYKPQGXQNOHPSNOFCO
PCRBPFOJYKSNHPHLLHPQBOOXO
ANOHQPQKNOPKTAKFYGHQRBFOPPCIVKNQBO
QBONOQKEOOTNOOYOTNKGSCNACHPOHNQBO
»Was ist das?«, fragte Clarissa. »Ein Code?«
»Ich gebe zu, ich hatte etwas Anspruchsvolleres erwartet. Was wir hier vor uns haben ist ein primitiver Substitutions-Code. Von solcher Einfachheit, das man sich fast ein wenig geniert .«
»Okay«, sagte sie. »Aber ich geniere mich nicht, Sie zu fragen, wie das funktioniert.«
»Bitte schön.« Alonzo zog einen Schreibblock und einen Stift hervor. »Wir beginnen mit einem Schlüsselwort. Sollen wir Henry nehmen? Mit Hilfe dieses Schlüsselworts erzeugen wir dann ein Substitutions-Alphabet. Seht her.«
Normales Alphabet
A
B
C
D
E
Schlüsselalphabet
H
E
N
R
Y
»Wie ihr seht, wird A zu H , B zu E und so weiter. Der Rest des Alphabets verändert sich entsprechend.«
Normales Alphabet
F
G
H
I / J
K …
Schlüsselalphabet
A
B
C
D
F …
»Warum teilen sich I und J einen Buchstaben im Schlüsselalphabet?«, fragte Clarissa.
»Im elisabethanischen Alphabet hat man zwischen ihnen nicht unterschieden, sie waren identisch. Das Gleiche gilt für U und V . Also, dann mal weiter. Jeder Buchstabe in der ursprünglichen Nachricht hat jetzt einen Substitutionsbuchstaben, und der Code lässt sich sehr rasch schreiben. Wo man normalerweise A schriebe, schreibt man H . Wo man F schriebe, schreibt man A . Und so weiter. Der Dechiffrierer hat die Aufgabe, das ursprüngliche Schlüsselwort herauszufinden.
Am einfachsten geht es, wenn man seinen eigenen Namen verwendet. Die Schwierigkeit bei Harriots Namen – so, wie wir ihn heute schreiben – besteht darin, dass hier ein Buchstabe zweimal vorkommt. Mit zwei r klappt die Verschlüsselung nicht, weil man dann jedem r einen anderen Buchstaben zuordnen müsste, und das schafft Verwirrung. Ich habe also nach einigen anderen Schreibweisen für Harriots Namen gesucht. Und nach einigen vergeblichen Versuchen hatte ich es dann:
Normales Alphabet
A
B
C
D
E
F
Substitutionsalphabet
H
E
R
Y
O
T
Danach brauchte ich nur noch den Rest des Alphabets auszutauschen – unter Berücksichtigung dessen natürlich, dass das elisabethanische Alphabet zwei Buchstaben weniger hatte – übrigens, Henry, du kannst es gern selbst probieren, wenn du –«
»Sprich weiter.«
»Tja, und nachdem ich das alles gemacht hatte, war der Code geknackt. Ich brauchte die Buchstaben nur noch in syntaktische Einheiten zu gliedern und voilà .«
Er wendete das Blatt um und schob uns den Block zu.
Mein Schatz liegt in dem neu gefundnen Lande
In einer Pracht, vom Aug' zu fassen nicht imstande
Gewalt'ge Lager Gold von unvergleichlich Wert,
Dort, es zu heben aus Virginiens Erd.
»In dem neu gefundnen Lande «, sagte Alonzo. »Das ist exakt so wie im Titel von Harriots Buch. Virginiens Erd' . Wir wissen jetzt, wo wir stehen, oder? Aber was liegt in dieser verflixten Erde? Mein Schatz . Gewalt'ge Lager Gold von unvergleichlich Wert … «
»Eine Metapher«, sagte ich.
»Sei nicht albern. Welchen Zweck hatte Harriots Reise hierher denn? Nach Bodenschätzen zu forschen, nach Mineralien, handfesten Dingen , die England einen Grund dafür lieferten, die Gegend zu übernehmen. Ich frage euch also: Was ist handfester als Gold? Ich garantiere euch: wenn ihr die Karte oder das Brustkreuz oder die alten Legenden jedes für sich betrachtet, gibt das nur eine dünne Suppe. Aber alles zusammen in einen Topf geworfen und zuletzt als Bindemittel noch Harriots eigene Worte hinzugegeben – tja, das nenne ich eine Speise. Für Könige.«
Ich griff nach meinem Bierglas. Und stellte fest, dass ich schon ausgetrunken hatte.
»Der unbestechliche Harriot also«, sagte ich. »Der Mann, dem Ralegh sein ganzes Geld anvertraute. Er stolpert über einen riesigen Schatz und beschließt, ihn für sich zu behalten?«
»Nehmen wir bloß mal an, er hat ihn eingelagert. Für die Zukunft.«
»Tja, ist ja alles schön und gut«, sagte Clarissa und trank einen Schluck von ihrem Heineken. »Aber es erklärt nicht, warum er das Gold zurückgelassen hat. Was nützte es ihm, wenn es hier vergraben blieb?«
»Gar nichts«, erwiderte Alonzo. »Es
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