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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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war für einen Moment verwirrt.«
    »Aber jetzt haben Sie sich erholt. Und nur das zählt.«
     
    Die Rothaarige war wieder hineingegangen, ich stand noch am Bordstein, da kam der nächste Anruf. Eine Nummer aus Washington, DC , die mir nichts sagte, und eine belegte, unwillige Stimme, bei der mir nur langsam etwas dämmerte.
    »Hier Detective Acree, Sie haben bei mir angerufen.«
    Sechs Stunden lag das zurück. Da wusste ich noch nicht, dass der Mensch, den alle Welt für tot hielt, noch lebte. Und dass Menschen für ein Buch umgebracht werden konnten. Und dass ein vor vierhundert Jahren geborener Gelehrter Menschen anspornen konnte, in der Ödnis von North Carolina nach einer Schatztruhe zu suchen, die möglicherweise nie existiert hat.
    »Mr. Cavendish?«
    »Ja, ich wollte Ihnen nur sagen, ich habe geschäftlich in den Outer Banks zu tun. Falls Sie etwa dachten, ich sei aus der Stadt verschwunden oder so.«
    »Sie sind also nicht aus der Stadt verschwunden?«
    »Nicht doch.« »Dann weiß ich Ihre Mitteilung zu schätzen. Noch etwas?«
    Das Handy strebte zentimeterweise von meinem Ohr weg.
    »Nichts.«
    »Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden.«
    »Nichts.«
     
    Alonzo trank den letzten Schluck seines Wodkas, Amory Swale ließ einen Zwiebelring um seinen Zeigefinger kreisen wie einen Hula-Hoop-Reifen, und Clarissa massierte sich die Falten aus den Augenbrauenmuskeln.
    »Ich bin dabei«, sagte ich.
    »Ausgezeichnet«, sagte Alonzo. Und sah auf seine Uhr. »Zehn Uhr dreiundzwanzig. Die Schule der Nacht tritt wieder zusammen.«

Isleworth, England

    1603

    19
    A m 20. Februar wird Margaret Crookenshanks, 22 Jahre alt, Küchenmädchen in Syon House, zum Verwalter gerufen.
    »Sie wünschten mich zu sprechen, Sir?«
    Gar so bedeutend ist der Verwalter, ein mittelloser und weitläufiger Verwandter des Earl of Northumberland, zwar nicht, aber er hat ein stolzes Gebaren und die schneeweiße Halskrause des berittenen Offiziers und spricht stets im Pluralis majestatis.
    »Wir wünschen, dass du dich morgen an einem neuen Arbeitsplatz einfindest.«
    »Sir?«
    »Master Harriot benötigt ein neues Hausmädchen.«
    »Master Harriot, Sir?«
    »Ja.«
    »Um welche Zeit werde ich erwartet, Sir?«
    »Beim Hahnenschrei. Komm nicht zu spät und kämm dich.«
    »Sehr wohl, Sir.«
    »Du wirst auch dort wohnen. Nimm deine Kleider und deine Habe mit. Mit allen weiteren Fragen wende dich an Mr. Golliver, Master Harriots Butler, oder an Mrs. Golliver, die Haushälterin.«
    »Jawohl, Sir.«
    Margaret will schon ihren Knicks machen, da fällt ihr etwas ein, und sie hält inne.
    »Wenn es erlaubt ist, Sir. Wer ist Master Harriot?«
    »Wir freuen uns sagen zu dürfen, ein Herr von Stand und
Format. Er führt Experimente durch und studiert ohne Unterlass.«
    »Da weiß sie gleich, von wem die Rede ist.«
     
    An ihrem zweiten Tag in Syon House – einem Dezembernachmittag – ging sie mit einem Bottich Waschlauge und Scheuersand zum Fluss hinunter, als sie einen vornehmen Herrn unbestimmten Alters in einem schwarzen Umhang erblickte. Er stand auf dem Dach seines Hauses, direkt hinter der Dachrinne, und hielt zwei verschieden große Musketenkugeln in der Hand, wie sie zu erkennen glaubte.
    Auf ein lautloses Signal hin sprangen seine Finger auseinander, und die Kugeln fielen herab. Aber das Merkwürdigste war: Jemand erwartete sie unten. Ein Junge (ein Sopran aus dem Kirchenchor, erfuhr sie später) lag seitlich auf der Erde, das linke Auge parallel zum Boden, und beobachtete die Landung der Kugelpaare.
    »Gleichzeitig, Sir!«
    »Bist du ganz sicher?«
    »Ja, Sir.«
    Sie wiederholten die Übung wenigstens drei Male – stets mit nämlichem Resultat.
    »Gleichzeitig, Sir!«
    Höchst verwunderlich, solche Betätigung zu sehen. So losgelöst von allem, was sonst in einem herrschaftlichen Haus vor sich ging. So nahe an Zeitvertreib. So nahe an Freude.
    Dem Verwalter, so heißt es, bleibe nichts verborgen, und er scheint in der Tat zu spüren, welche Richtung Margarets Gedanken einschlagen.
    »Um es volkstümlich auszudrücken: Master Harriot ist ein komischer Kauz. Aber keine Gefahr für ein junges Mädchen, darauf darfst du vertrauen. Unsere eigene Tochter könnte hier arbeiten, ohne dass unser Nachtschlaf gestört würde.«
    Der Verwalter hat zwar keine Kinder, aber sein Ton klingt überzeugend.
    »Meine Aufgaben, Sir?«
    »Du wirst noch gebührend eingewiesen. Ein Gebot aber musst
du auf Weisung ihrer Ladyschaft vor allen anderen achten: Master

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