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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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sei denn, er plante, hierher zurückzukehren.«
    »Und warum sollte er das tun?«
    »Warum sollte er nicht ? Denkt doch mal nach. Eine wertvollere Kraft als Harriot hatte die Krone nicht. Er beherrschte die Landessprache, er kannte die Lage. Er hatte jeden einzelnen Häuptling in dieser Region bezaubert. Die wären doch verrückt gewesen, ihn nicht wieder herzuschicken.«
    »Haben sie aber nicht«, warf ich ein.
    »Oh, das stimmt«, sagte Amory Swale und lächelte sorgenvoll. »Aber aus Gründen, die niemand beeinflussen konnte. England
begann den Krieg mit Spanien, und die Königin brauchte Ralegh, und Ralegh brauchte Harriot. Die Tür war mit einem Mal zugeschlagen.«
    »Aber wo konnte Harriot das Gold denn nun gefunden haben?«, fragte Clarissa. »Carolina ist ja sehr schön und alles, aber es ist kein Kalifornien.« »Das Gold kam nicht vom Land«, erklärte Alonzo. »Es kam auf dem Seeweg.«
    »Noch mal dasselbe?«, flötete die Kellnerin und schob sich in unser Blickfeld.
    Alonzo wandte sich ihr mit voller Konzentration zu.
    »Wie aufmerksam von Ihnen. Ich hätte gerne dasselbe noch mal. Und doch steht meinem Durst ein anrührend archaisches Bedürfnis nach Ungestörtheit gegenüber. Ein richtiges Dilemma! Daher schlage ich vor, Sie kommen in genau zwölf Minuten wieder. Und dabei recht laut auftreten, wenn ich bitten darf. Sie schaffen das bestimmt, denn Sie machen mir den Eindruck, höchst anpassungsfähig zu sein. Inzwischen bye-bye.«
    Er bedeutete ihr, sich zu entfernen, rollte dann das Papier zusammen und verstaute es wieder an seinem Platz unter dem Tisch.
    »So, Kinder, jetzt sagt mal«, sagte er. »Von les frères Wright mal abgesehen, wofür sind die Outer Banks am bekanntesten?«
    »Wind«, sagte ich.
    »Sprich weiter.«
    »Stürme.«
    » Und … «
    »Schiffwracks«, sagte Clarissa.
    »Genau. Der Friedhof des Atlantik . Wenn der Atlantik damals eines hatte, dann Schiffe. Für die er zu ihrem Grab wurde.«
    Es war das Zeitalter der Segler. Auf den Ozeanen wimmelte es von rahgetakelten Koggen und Karacken aus Spanien, Frankreich und Portugal, aus Dänemark, Schweden und der Niederländischen Republik, aus Neapel, Venedig und Genua, aus dem Osmanischen Reich und den Küsten der Berberei. Mit jeder Flut ein neues Schiff, brechend voll mit Siedlern und Handwerkern, Kriegern und Piraten und mit dem geplünderten Reichtum der Neuen Welt: Seide, Gewürze, Tabak, Edelsteine, Silber …
    Und Gold.
    »Wie lautet also deine Theorie?«, fragte ich. »Eine spanische Galeone kommt des Wegs und läuft auf ein Riff oder eine Sandbank und wird Harriot vor die Füße gespült? Ist das nicht ein bisschen unwahrscheinlich?«
    »Keineswegs«, gab Alonzo pikiert zurück. »An dieser Küste waren schon viele Schiffe gesunken. Und Hunderte sind es seit Harriots Zeit noch. Vergiss nicht, sie hatten keine Leuchttürme und keine genauen Karten. Dieser Küstenstrich war für Boote der Tod.«
    Clarissa beugte sich über den Tisch. »Aber wenn es direkt vor der Küste von Carolina zu einem schweren Schiffsunglück gekommen sein sollte, warum hat das außer Harriot sonst niemand gesehen?«
    »Wer war denn hier, der es hätte sehen können ? Die gesamte Kolonie bestand aus vielleicht einhundert Mann, von denen die meisten im Landesinneren hockten und ihr albernes Fort verteidigten. Harriot allein hatte die Freiheit, die Gegend zu erkunden, das war sogar seine Stellenbeschreibung. Meilenweit ist er gewandert. Nach Norfolk, Elizabeth City … er war vor allen anderen weißen Männern dort. Und wir können annehmen, dass er über längere Zeiträume praktisch allein war. Vielleicht war ihm das sogar lieber.«
    »Aber wir wüssten es doch«, sagte Clarissa. »Ein Schiff, das mit so vielen Schätzen an Bord untergeht – darüber gäbe es doch Aufzeichnungen, richtig?«
    Alonzo legte seine Hand auf die Clarissas.
    »Ich will es Ihnen nachsehen, weil Sie bestimmt high sind. Was für Aufzeichnungen, meinen Sie denn, hat man damals gemacht?«
    »Das weiß ich nicht …«
    »Und sie wussten es auch nicht. In Bermuda, über sechshundert Meilen von hier entfernt, kratzen sie heute noch alte Wracks von den Riffs. Und keines davon stand auf irgendeiner Vermisstenliste. Wenn es Augenzeugen gab, Gott steh ihnen bei, sind die mit den Schiffen untergegangen. Falls Thomas Harriot auf ein
Wrack gestoßen wäre, hätte er gewusst, dass er behalten darf, was er findet.
    Ich fasse mal zusammen«, sagte er. »Wir haben die geographische Lage –

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