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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Harriot bedarf der Ruhe. Er wird mit vielem fertig, aber er darf nicht gestört werden.«
     
    Das hat sich Margaret so ins Gedächtnis eingebrannt, dass sie ihre Lederschuhe auszieht, bevor sie hinten an Master Harriots Haus anklopft. Und prompt von Mrs. Golliver gescholten wird.
    »Sie geht in Strümpfen, das dumme Ding! Ha, Mr. Golliver, sie haben uns einen Grünschnabel geschickt.«
    »Und liederlich noch obendrein.«
    »Kein Wunder! Sie kommt aus der Spülküche.«
    Wie viele langverheiratete Paare bilden die Gollivers ein gemeinsames Bollwerk gegen die Welt, das freilich jederzeit unter privaten Spannungen einzustürzen droht. Der Gatte: kahl, rötlicher Bart, der Leib gebeugt und verstockt wie bei einem Ochsen, der sich nur widerstrebend von der Weide wegführen lässt. Mrs. Golliver: verschwitzt und bleich, schiebt den Bauch vor sich her wie den Bug eines Schiffs, hat Unterbiss und schaut wie ein Schlachter, der das Schwein taxiert.
    »Hübsch genug bist du ja. Nicht dass er das bemerken würde.«
    Die Gollivers legen ihr genaustens dar, was sie zu unterlassen hat. Dazu gehört: sprechen, sofern sie nicht gefragt wird; vor allen anderen zu Bett gehen, nach allen anderen aufstehen. Besuch empfangen, ob männlichen oder weiblichen. Den Kirchgang versäumen. Jammern, klagen, überhaupt Widerworte geben. Fragen stellen.
    »Und merk dir meine Worte, Kind.« In Mrs. Gollivers vorquellende Augen tritt ein sonderbarer Glanz. »Du wirst dich dem Herrn nicht nähern.«
    Betritt er ein Zimmer, in dem sie arbeitet, hat sie sofort hinauszugehen. Äußert er in ihrer Hörweite, dass er etwas benötigt, hat sie die Bitte Mr. oder Mrs. Golliver umgehend zu übermitteln. Sie hat den Herrn nicht anzusehen und nicht in ein Gespräch zu verwickeln oder etwas von seinen Sachen zu berühren. Missachtet sie eine diese Anordnungen, hat das ihre sofortige Entlassung zur Folge.
    Mrs. Golliver entblößt die Stelle, an der früher ihre Zähne waren.
    »Du möchtest doch nicht enden wie Jane, oder?«
    Erst später erfährt Margaret, wer Jane ist: das vorige Hausmädchen. Die ihren Zustand zwar sieben Monate lang verheimlichen konnte, aber im Januar doch eingestehen musste, dass sie ein Kind erwartete.
    Der Vater wurde rasch gefunden: ein Bankschreiner, der die junge Frau bei einem Lagerfeuer kennengelernt hatte. Ein Ehevertrag wurde aufgesetzt, die Verkündung des Aufgebots von drei- auf einmal reduziert, und in der Woche darauf wurde Jane Jasper, atemlos und hochschwanger, zu Jane Fitzwilliam.
    »Erst waren es nur Kleinigkeiten, bei denen sie vom Wege abkam«, sagte Mrs. Golliver. »Hier ein Saum, der herabhing. Da ein Stich, der fehlte. Die Stimme misstönend laut. Ehe wir eingreifen konnten, machte sie die Beine breit für den ersten Mann, der es verlangte. Tu es Jane nicht nach … «
     
    Um fünf Uhr früh ist Margaret mit den Melkerinnen auf den Beinen. Die Kälte legt sich um sie, kaum dass sie aufgestanden ist, folgt ihr durchs Haus und schnappt sich ihren Unterrock, wenn sie die Asche vom Vorabend ausschöpft, die Kohlefeuer anzündet, dann die Stiefel des Herrn bürstet und wichst und Wasser holt.
    Nach dem Frühstück macht sie die Betten und leert die Nachttöpfe, fegt den Boden, klopft die Teppiche aus und stopft frisches Heu in die Lager. Sie arbeitet den Nachmittag und den frühen Abend durch: bäckt Brot, buttert, wäscht und bügelt Kleider, schrubbt Böden und scheuert Teller, das Silber und Mrs. Gollivers Kochtöpfe mit Hirschhornpaste.
    Abends isst sie allein in ihrer Dachkammer: Gerstenbrot mit einer Scheibe Schinken oder Schweinefleisch; am Sonntag Ochsenwange. Dort schläft sie auch, auf einem Gesindebett, ihre Knochen brennen vor Müdigkeit. Da es nur ein Fenster gibt, ist es vollkommen dunkel (bis auf den Kerzenstummel in einem Leuchter). Das stört sie nicht. Auf die Weise braucht sie
ihre Hände nicht mehr zu sehen, die einmal zart und hübsch waren.
     
    Vom Herrn sieht und hört sie nicht viel: einmal huscht etwas Schwarzes über die Treppe, einmal ertönt eine leise Stimme im Nebenzimmer. Was sie über ihn erfährt, geschieht auf indirektem Wege. In seinem ungemachten Bett beispielsweise sieht sie den Abdruck eines Männerkörpers, riecht den Männergeruch. Seine Stiefel erwarten sie morgens vor dem Herd. Und seine Kleider sind fast bestürzend in ihrer Eintönigkeit: schwarze Umhänge, schwarze Hemden, schwarze Wamse, schwarze Strümpfe und weiße Halskrausen, die immer weich sind, weil er die kratzige

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