Algebra der Nacht
Stärke am Hals nicht mag.
Bei wärmerem Wetter hängt sie die Sachen einmal pro Woche auf eine Leine und klopft sie aus. Dann entsteigen ihnen die Gerüche von Bisamapfel und Nelke, von Anis und Schwefel … und noch etwas, das sie nicht zu benennen vermag, bitter und rauchig und mild.
Sie riecht dasselbe wieder, als sie das Bettzeug wechselt, und nach einigem Suchen verfolgt sie den Geruch zurück bis zu braunen Blättern, die auf einem Fenstersims zum Trocknen liegen. Sie sehen aus wie die Späne in Puppenleibern. Margaret nimmt ein Blättchen in den Mund, lässt es auf der Zunge liegen und spürt erstaunt, wie das Kribbeln ihr bis in den Hinterkopf steigt.
Am nächsten Abend, sie liegt im Bett, noch zu abgeschlagen für den Schlaf, riecht sie es wieder. Wie ein Traum weht der Geruch durch ihr halboffenes Fenster herein. Sie steht auf, schlägt die Decke um sich und sieht hinaus.
Er ist im Hof, direkt unter ihr. Sitzt auf einem umgestürzten Milcheimer, eine Tonpfeife hängt ihm von den Lippen. Aus dieser Pfeife steigt eine wässrige Rauchsäule in den Nachthimmel auf. Margaret hält die Hand hinaus, und der Rauch umfängt sie, beizt ihre Haut.
Bevor sie sich versieht, liegt die Pfeife auf der Erde, der Kopf des Herrn ist auf seine Hände gesunken, und die ganze Gestalt
bebt und raucht wie ein grummelnder Vulkan. Es folgt aber kein Ausbruch. Nur eine sich langsam sammelnde Stille.
Am nächsten Morgen riecht ihr Arm immer noch nach Tabak.
Der Verwalter kommt zweimal die Woche, immer unangekündigt, und inspiziert ihre Arbeit. Er spricht in tiefen und bedrückten Kadenzen.
»Es liegt ein großer Haufen Asche im Stubenherd. Des Weiteren Krumen auf dem Boden der Speisekammer. Die Servietten sind angeschmutzt, der Wasserkrug fleckig. Leider mussten wir in der Diele einen deutlichen Stiefelabdruck sehen …«
Die Gollivers setzen da fort, wo er aufgehört hat. In Margaret haben beide das gefunden, was sie für Minuten vergessen lässt, wie viel Kümmernis sie miteinander haben.
»Für sie ist das eine Naht, nicht?«
»Ungeschick, verlass mich nicht! Man möcht glauben, sie hat zwei linke Hände.«
»Wann sie dem Herrn wohl seinen Wasserkrug füllen wird? Zu Michaeli, was meinst du?«
Und können sie Margaret einmal bei rein gar nichts ertappen, verlegen sie sich aufs Orakeln.
»Mit ihr wird es gewiss enden wie mit Jane.«
Der Spott verfehlt freilich sein Ziel, denn Margaret betrachtet Jane längst nicht mehr als abschreckendes Beispiel. Jane hat den Absprung geschafft. Sie hat einen Mann, ein Kind, eine Zukunft. Eine junge Frau kann es schlechter treffen als Jane.
Eines Donnerstags im April strecken Mrs. Golliver die Magenschmerzen wieder nieder. Sie windet sich im Bett, beißt ins Kissen, um nicht zu schreien. Der Umschlag mit Bilsenkraut, den ihr Mr. Golliver verabreicht hat, bewirkt keine Besserung, und in seiner Verzweiflung ruft er mit wildem Blick Margaret herbei.
»He, du! Geh das Laboratorium entstauben. Und flink! Und dann komm gleich wieder …«
Laboratorium . So ein schweres seltsames Wort und so ein kleiner schäbiger Raum. Zwei Kastenhocker. Drei Truhen für Papie
re. Ein einfacher grober Arbeitstisch. Weder Teppich noch Kissen oder Wandbehang. Und keine freie Stelle, an der sie anfangen könnte.
Vage fährt sie mit dem Staubwedel zwischen die Zinngefäße und Töpfe, Messstäbe und Bronzescheiben und Vergrößerungsgläser, die verschlissenen Gänsekiele und die eingetrockneten Tintenfässer. Ein Meer von Gegenständen mit Inseln aus Papier.
Und hier die Frage, die für sie immer unbeantwortet bleiben wird: Warum fällt ihr Blick gerade auf dieses Blatt?
Es ist nichts Besonderes daran: nicht die Tintenkleckse, nicht die Fett- und Wachsabdrücke. Es ist eine Tabelle, weiter nichts. Namen und Zahlen.
Cyprium
2.43
Adamas
2.42
Sapphir
1.76
Krystallos
2.00
Rubeus
1.76
Achates
1.54
Mel
1.49
Die oben auf das Blatt gekritzelten Worte sind es, die sie schließlich stutzen lassen.
Problema: Datis fractionibus ab aere ad aqua et ab aere ad vitrum: fractionem ab aqua ad vitrum invenire.
Ihre Augen sieben die Wörter, ihre Lippen formen sie nach.
Aere … aqua … vitrum.
Und aus tiefer Quelle erscheinen die Bedeutungen wie auf einer imaginären Schiefertafel.
Luft … Wasser … Glas.
Und dann braust die alte Musik heran. Töne, so erregend und traurig, dass sie benommen stillsteht, wie aus der Zeit gefallen. Bis ein schwarzes Rascheln am Rande ihres
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