Algebra der Nacht
es nicht fertig, ihn anzusehen.
»Ich füchtete, ich hätte Sie gekränkt, Sir.«
»Warum denn?« »Ich darf Ihre Sachen nicht anrühren, Sir. Das ist streng verboten, es ist eine Regel.«
»Ich bin nicht mal sicher, dass ich diese Regeln kenne. Es könnte mir einmal jemand die Gefälligkeit erweisen und mir Aufklärung darüber geben. Oh, halt. Herrscht deshalb so eine Totenstille im Haus?«
»Ja, Sir. Das ist die allererste Regel.«
»Aha.«
Er kommt einen Schritt weiter ins Zimmer herein. Überlegt kurz, ob er wieder zurücktreten soll oder nicht.
»Wenn ich fragen darf. Arbeiten Sie schon lange hier?«
»Seit drei Wochen, Sir.«
»Früher war ein anderes Mädchen hier, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Jane. Sie hat geheiratet.«
»So?«
Er nimmt die Neuigkeit auf. Dann:
»Und Ihr Name …?«
»Margaret.«
»Aus London, wie es sich anhört.«
»Ja, Sir.«
Er nickt, drei- oder viermal. Versucht sich an einem Lächeln.
»Nun denn, mein Name ist Harriot.«
»Ja, Sir, ich weiß.«
»Oh, natürlich. Zumindest das haben sie wohl gesagt.«
Der zarteste Hauch von Farbe auf seinen Wangenknochen.
»Es ist eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Margaret.«
»Ich danke Ihnen, Sir.«
»Also dann.«
Als er die Hand zu einer Abschiedsgeste erhebt, sieht er, als wäre es das erste Mal, das Blatt, das zwischen seinen Fingern klemmt. Legt es unter nochmaligem Räuspern auf den Zeichentisch.
Im ersten Moment erkennt sie es nicht gleich. Dann springt ihr das Latein ins Auge.
»Sie – Sie können es nehmen, wenn Sie möchten.«
»Nehmen, Sir?«
»Ich bin derzeit anderweitig beschäftigt. Und vielleicht wollen Sie es sich gründlich ansehen. Nach Ihrem Belieben, meine ich …«
Nach ihrem Belieben.
»Ich danke Ihnen, Sir.«
»Es ist natürlich auf Lateinisch.«
»Ja.«
»Ich wusste nicht, ob Sie –«
»Ich kann, Sir. Ein bisschen.«
Ein Lächeln ist es genau genommen nicht. Seine Lippen vollführen eine zuckende Bewegung, die unter diesen Umständen aber nicht gänzlich unschön ist.
»Nun denn. Bringen Sie es morgen zurück. Wenn Ihnen das recht ist.«
»Ja, Sir.«
Die einzige Kunst ist, das Blatt vor den Gollivers zu verbergen. Sie versteckt es in ihrem Mieder und zieht es erst am späten Abend wieder hervor, eine Stunde nachdem alle anderen zu Bett gegangen sind. Breitet es auf ihrem Strohsack aus und studiert es bei Kerzenlicht, achtet tunlichst darauf, dass kein Wachs auf das Blatt tropft. Sie liest wie ein Flüchtling.
Am nächsten Tag postiert sie sich zur Mittagsstunde im Salon. Diesmal ist sie auf ihn vorbereitet.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Ich konnte nicht überall folgen. Nicht bis zum Schluss.«
Seine Lippen sind schmal, aber nicht kalt.
»Sagen Sie mir, wo Sie stockten.«
»Oh.«
Steif wie Fischbein legt sie das Blatt auf dem Tisch ab.
» Von Luft zu Wasser … diese Zeile ist einfach. Von Luft zu Glas, von Wasser zu Glas . Schön und gut, aber dann kommt das fractio – «
» Fractionibus. «
»Das ist es. Das verstehe ich als Brechen …«
»Ja, ich gebe zu, ich notiere manchmal sehr knapp. Bei dem in Frage stehenden Brechen handelt es sich um den Brechungsfaktor.«
»Und was bitte, Sir, ist das?«
»Oh. Also gut. Wenn das Licht – wenn es auf einen anderen Körper trifft – auf beispielsweise ein durchsichtiges Medium von der Beschaffenheit von Glas oder, oder Wasser – nun, dann wird es in einem bestimmen Winkel gebrochen . Der Brechungsfaktor ist einfach eine Methode zur Messung des Grades, in welchem ein bestimmter Körper das Licht ablenkt oder bricht. Verzeihen Sie. ich habe mich bestimmt unverständlich ausgedrückt …«
»Oh, nein, Sir. Ich dachte bloß, wie sonderbar das ist.«
»Sonderbar.«
»Nun, dass Licht überhaupt gebrochen wird.«
»Daran ist nichts Sonderbares. Sie haben doch schon mal einen Regenbogen gesehen, nicht? Der ist lediglich die Wirkung davon, dass Licht gebrochen wird, und zwar in die es konstituierenden Bestandteile. Gleichermaßen, wenn man einen Stock in einen Teich hielte, würde der Stock – es würde scheinen, als sei er an dem Punkte, an dem er in die Oberfläche des Teiches eintritt, abgeknickt. Das ist natürlich nichts anderes als eine optische Täuschung, erzeugt durch die Lichtbrechung .«
Margaret nickt. Sagt sich, es sei Zeit zu gehen. Aber dann, sie ist selbst bestürzt, hört sie sich abermals sprechen.
»Aber wie möchte sich so etwas messen lassen?«
»Nun, das berührt eine sehr interessante
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