Algebra der Nacht
Gesichtsfelds sie in die Gegenwart zurückholt.
Der Herr.
Auf einem seiner harten Eichenstühle, ein Blatt Papier auf dem Schoß.
Wie ist es möglich, dass sie ihn nicht bemerkt hat? War sie so im Bann der Wörter?
Die Regeln sind ihr bekannt. Kein Wort. Sofort hinausgehen. Unverzüglich melden. Doch irgendetwas an ihm hält sie auf.
Sie will etwas sagen, sich erklären. Mrs. Golliver … sie ist krank … Die Wörter wollen nicht kommen, auch der Knicks nicht. Die Angst lässt sie schließlich blindlings davonlaufen.
Sie ist schon fast aus dem Haus hinaus, als er ihr nachruft. Und die Worte sind umso schrecklicher, als es die ersten sind, die er an sie richtet. Sie dröhnen ihr in den Ohren.
Können Sie lesen?
20
M argaret Crookenshanks kann lesen.
Sie verdankt es zwei Launen des Schicksals. Ihr Vater liebte Bücher, und er hatte keine Söhne.
Als sich zeigte, dass Margarets ältere Schwester für die Magie der Worte unempfänglich war, griff Margaret glücklich nach der Buchstabentafel. Hob sich das durchscheinende Blatt vor die Augen und erblickte diese seltsamen, bedeutungsvollen Zeichen.
Aa … Bb … Cc
Das Vaterunser war das Erste, was sie lernte. Sie sang es, wenn man den Worten ihres Vaters Glauben schenken darf, die Wörter tanzten ihr von der Zunge.
Danach bevölkerten Tom Thumb und Dick Whittington, Robin Hood und König Artus ihre Tage. Und als es Zeit war für ernsteren Lesestoff, führte ihr Vater sie durch die Genfer Bibel und durch Foxes Book of Martyrs . Und als er sah, dass ihre Leidenschaft mit jeder neuen Aufgabe wuchs, führte er sie durch das Labyrinth der lateinischen Sprache.
Nominativ und Genitiv und Dativ und Akkusativ. Zeiten und Modi und Personen und Genera und Aspekte. Sie las Lilys Grammatik und kämpfte sich Zeile für Zeile durch Cicero und Terenz, die Eklogen und die Metamorphosen, durch Cäsars De bello Gallico und durch Horaz, Tully und Lukrez.
Manchmal merkte sie beim Lesen, wie ihr Atem die Buchseiten befeuchtete, und es kam ihr so vor, als sei sie in ein Gewächshaus
geraten, gewärmt vom Licht der Worte und gekühlt von ihres Vaters strengen Kadenzen.
»Noch einmal von vorn, Margaret.«
Auf dem Heimweg von seinem Laden machte Mr. Crookenshanks manchmal einen Abstecher zum Westportal von St. Paul's und kaufte einen Band Liebessonette für sie. Wie traurig steigst du, Mond, am Himmel auf! … Komm, Schlaf, o Schlaf … Lass mich, o Liebster … Einst ihren Namen schrieb ich in den Sand … Da nichts mehr hilft: ein Kuss! dann lass uns gehen …
Mrs. Crookenshanks konnte nicht lesen, aber das Strahlen blieb ihr nicht verborgen, das in diesen Augenblicken ihre Tochter erfasste, die die Lippen öffnete, um alle Gaben zu empfangen.
»Leg das weg! Sofort!«
Margaret war inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass sie die Ursache für den Krieg ihrer Eltern und ihr Pfand war und dass sie nur in den ihrer Mutter verhassten Büchern Schutz fand.
Als Margaret zwölf wurde, ging ihr Vater einen beispiellosen Schritt: Er brachte ihr das Schreiben bei. Mrs. Crookenshanks, die nur ihr Kreuz machen konnte, empfing es als Schlag, der sich gegen sie richtete.
»Sie wird weder zur Arbeit noch zur Ehe taugen!«
Eines Nachmittags fand Margaret sie mit finsterem Blick über das Gekritzel ihrer Tochter gebeugt.
»Mutter?«
Mrs. Crookenshanks wandte das Gesicht ab, aber nicht schnell genug, denn ihre Tochter sah den Schleier, der auf ihren Augen lag.
Zwei Wochen nach Margarets vierzehntem Geburtstag brannte Mr. Crookenshanks Strumpfwarenladen bis auf die Grundmauern nieder. Für einen Wiederaufbau fehlte das Kapital, und er machte sich daran, seine Waren auf der Straße feilzubieten, ertrug die Arbeit aber so wenig wie die Stadtluft. Er legte sich abends immer früher ins Bett – fürs Lesen fehlte jetzt die Zeit –, und kurz nach Advent erkrankte er schwer. Zwei Tage darauf
starb er in seinem Bett, ein Kruzifix aus Elfenbein baumelte an seinem ausgetrockneten Hals.
Am nächsten Morgen nahm Mrs. Crookenshanks alle Bände ihrer Tochter – ihren Tully, ihren Montaigne, Astrophil und Stella –, warf sie in einen Sack und verkaufte sie an einen Buchhändler.
»Die brauchst du jetzt nicht mehr«, sagte Mrs. Crookenshanks.
Es geschah allein aus praktischen Gründen. Der Tod ihres Mannes hatte alle Hoffnungen auf eine Mitgift oder ein Vorwärtskommen ihrer Töchter zunichte gemacht. Die Familie hatte jetzt alle Hände voll zu tun, um zu
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