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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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überleben.
    Mit fünfzehn ging Margaret Crookenshanks in Stellung. Ihre Mutter hatte gehofft, sie könne Zofe werden, aber Margaret hatte das Nähen und Wollekrempeln um des Lesens willen vernachlässigt und auch nicht Laute spielen gelernt. Zudem war die Zahl der Damen von Stand, die sich mit ihren Dienstmädchen in Ciceros Reden vertiefen mochten, bestimmt gering. Wenige genug von ihnen konnten überhaupt lesen.
    Ein Vetter beschaffte Margaret Arbeit als Heumacherin in den Lambeth Fields. Sie trug einen Unterrock aus grober roter Wolle und einen großen Strohhut und musste ein Dutzend Mal pro Tag niesen. Im Herbst heuerte sie als Milchmädchen an, aber ihre Schultern waren nicht kräftig genug für die Eimer, und nachdem sie zum dritten Mal gestolpert war, wurde sie entlassen.
    Sie mälzte, sie putzte Kirchen, sie rupfte Werg. In guten Wochen verdiente sie sechs Pence; in anderen nicht einen. Meist musste sie mit einer Mahlzeit am Tag auskommen. In stillen Momenten spürte sie, wie sie Pfund um Pfund vom Fleisch fiel – nur ihre Knochen gewannen eine unwahrscheinliche Festigkeit.
    Im Sommer erkrankte sie an Ziegenfieber. Sie legte sich ins Bett und schwitzte aus, was sie noch in sich hatte. Ihre Mutter pflegte sie, und als Margaret wieder auf den Beinen war, überbrachte Mrs. Crookenshanks ihr die Nachricht. Ein alter Freund ihres Vaters hatte es eingerichtet, dass sie zum Jahrmarkt nach Isleworth fahren und mit dem Oberaufseher von Syon House zusammentreffen konnte.
    »Denk dir nur, Margaret! Der Earl of Northumberland!«
    Margarets Hände waren da noch hübsch, und sie war vor dem Vorstellungsgespräch eine Stunde spazierengegangen, damit ihre Wangen etwas rosiger wurden. Sie hielt die Stimme gesenkt und den Blick noch tiefer gesenkt. Sie wurde vom Fleck weg angestellt.
     
    Fünf Jahre sind seither vergangen, und Margaret Crookenshanks ist immer noch in der Lehre, aber kommendes Frühjahr hofft sie, einen Lohn zu erhalten. Dreißig Shilling pro Jahr, wenn sie Glück hat.
    Bücher besitzt sie keine. Und besäße sie welche, würde sie sie nicht lesen.
     
    Das ist der Zunder, auf den Master Harriot unbeabsichtigt seinen Funken geworfen hat. Margaret Crookenshanks kann lesen, und es ist ihr nie gut bekommen.
    Wird es ihr noch einmal schlecht bekommen? Master Harriot wird über ihr Eindringen gewiss empört sein und den Gollivers Mitteilung machen. Und morgen früh wird Mrs. Golliver, erfreut, dass ihre düsteren Prophezeiungen sich erfüllt haben, ihr die Dienstkleidung wegnehmen und sie fortjagen, ohne einen Penny in der Börse.
    Am nächsten Morgen steht sie um fünf Uhr auf und macht sich mit düsterer Vorahnung auf ihre Runde. Als sie sich bückt und den Ruß aus dem Herd kratzt, vernimmt sie hinter sich das schwere Trampeln von Mrs. Golliver, die ihr Krankenlager verlassen hat. Sie schließt die Augen und wappnet sich gegen das, was nun kommen muss.
    Und ist verdutzt, dass es keine Ohrfeige und kein Puff in die Rippen ist, sondern ein Kitzeln. An ihrer linken Fessel.
    »Dumme Gans! Das hast du liegengelassen.«
    Margaret sieht hinab auf einen alten Baumwollstrumpf. Ihren Putzlumpen.
    »Der Herr persönlich musste ihn bringen.«
    Anfangs kann sie kaum glauben, dass sie noch einmal davon
gekommen ist. Aber der Vormittag zieht sich hin, ihre Glieder schmerzen auf die altbekannte Weise, und die Gollivers knurren sich an wie eh und je. Um die Mittagsstunde ist sie schon wieder so ruhig, dass sie nicht hinschaut, als die Tür im Nordzimmer aufgeht.
    Dann hört sie das Räuspern. So diskret – das kann kein Golliver gewesen sein.
    Es ist der Herr. Wie üblich in einem einfachen schwarzen Gewand, eine Schädelkappe auf das kurzgeschnittene Haar gedrückt.
    »Ich bitte um Verzeihung«, sagt er. »Ich habe Sie wohl erschreckt.«
    Er lächelt jetzt. Oder vielmehr, gibt sich alle Mühe, das zu bewerkstelligen, aber seine Zähne, fein und ebenmäßig und nur wenig grau, ziehen sich schutzsuchend in seinen Mund zurück.
    »Meine Art bringt es mit sich, dass ich oft zu leise bin«, teilt er ihr mit. »Oder aber zu laut. Offenbar finde ich die goldene Mitte nicht.«
    Margaret nimmt die Abbitte in seinem Ton nicht wahr, ist zu sehr beschäftigt, ihrerseits um Entschuldigung zu bitten.
    »Oh, Herr. Es tut mir so leid. Es geschah nicht absichtlich. Ich habe saubergemacht. Bitte sagen Sie es Mrs. Golliver nicht.«
    »Aber ich habe schon mit ihr gesprochen. Das heißt, Ihren Putzlumpen zurückgebracht.«
    Noch immer bringt sie

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