Algebra der Nacht
»Bonnie? Clyde? Wir sind nicht zum Vergnügen hier.«
Isleworth, England
1603
34
E rstaunlich, dass er sie mal für gewöhnlich gehalten hat.
Lag es daran, dass ihr Mund so klein war? Da stand es ihm noch bevor, ihn in all ihren verschiedenen Stimmungen zu sehen: feucht vor Neugier, prall vor Heiterkeit, mit hängenden Mundwinkeln, wenn sie sich besonders konzentriert. Der Wohlklang, den ihr rundes Kinn und die runden farngrünen Augen bilden, die Entdeckung hat er noch vor sich. Dass alles an ihr Musik ist, die römische Nase und die filigranen Adern in Delfter Blau an ihren Schläfen und die Andeutung von Kraft in ihren festen Unterarmen. Abermals – wie könnte es anders sein? – kommen ihm Sidneys Zeilen in den Sinn:
Nicht auf den ersten Blick, und blindlings nicht,
Schoß Amor mir die Wunde, die, solang ich atme, bluten wird.
Doch Wert, den ich erkannte, grub sich stufenweis
Durchs Erdreich in der Festung innersten Bezirk.
Wert, den ich erkannte : ja. Und nun, da er völlig davon eingenommen ist, was kann er tun?
Sie arbeiten weiter wie zuvor; das müssen sie. Aber die Wunde hat sein Auftreten ihr gegenüber verändert. Den einen Moment ist er verdrossen, den nächsten schnippisch. Und besonders unwirsch, wenn ihr Geruch nach grünen Äpfeln ihn so ablenkt.
»Beeil dich! Das dauert zu lange.«
»Kannst du nicht schneller schreiben?«
»Du stehst mir im Licht!«
Sie erträgt alles mit unendlicher Geduld.
»Es tut mir sehr leid, Herr.«
Das reizt ihn nur noch mehr.
»Warum musst du immer Herr zu mir sagen? Es besteht doch keine Veranlassung dafür.«
»Wie Sie wünschen, Sir.«
»Für Sir auch nicht.«
»Wie soll ich Sie dann nennen?«
Darüber hat er herzlich wenig nachgedacht.
»Ich würde meinen, meine Freunde haben immer Tom zu mir gesagt.«
Aber er merkt sofort, dass dies zu liberal für sie ist. Und jetzt ist es zu spät, es zu korrigieren. Da ihr die alte Form untersagt worden ist, ist sie genötigt, auf eine Anrede ganz zu verzichten.
Die beiden werden zwar immer noch von der Dunkelheit angezogen, aber sie mögen sich noch so sehr verstecken, der Sommer findet sie: der Tag zieht sich weiter in den Abend, steht jeden Morgen ein paar Minuten früher auf der Schwelle. Der Klugheit der Natur kann kein Sterblicher widerstehen. Und so einigen sie sich nach längerer Diskussion darauf, die Nachmittage für Ausflüge zu verwenden.
Da er nicht aus gewöhnlichem Holz geschnitzt ist, beharrt er auf einem: kein Theater und keine Bärenhatz, keine Hahnenkämpfe. Wenn sie sich in die Welt hinaus begeben, dann müssen sie für ihre Mühen belohnt werden. Und so untersuchen sie die Verbreitung von Schwänen rings um Chiswick Eyot. Sie vergleichen die Wasserstände bei Flut in Brentford Ait; mit dem Astrolabium messen sie, auf der London Bridge stehend, Breitengrade; sie ergründen die Brechung des Sonnenlichts am stets in Nebel gehüllten Pier von Blackfriars.
In der zweiten Juniwoche treffen abenteuerliche Nachrichten aus Greenwich ein. Ein riesiger Fisch, den man im Rainham Creek gefunden und mit Harpunen und Fangspeeren flussauf
wärts getrieben hat, ist bis zur Hundeinsel geschwommen und auf einer abseitigen Untiefe gestrandet.
Niemand kann erklären, warum der Fisch so weit vom Meer abgekommen ist und sich hierher verirrt hat oder warum die Fischer, die ihn verfolgten, ihn nicht an Ort und Stelle getötet haben. Aber ihr gutes Werk hat seinen Lohn gefunden: ein stetiger Strom von Gaffern, angelockt von der Aussicht auf ein riesiges Seeungeheuer, ist bereit, ihnen für einen Blick darauf einen halben Penny pro Kopf zu bezahlen.
Als den Fischern klar wird, auf was für eine Goldgrube sie gestoßen sind beschließen sie, einen Penny zusätzlich zu verlangen für das Privileg, das Vieh anfassen zu dürfen. Margaret und Harriot zahlen den Preis mit Freuden. Als sie das Flussufer hinabkraxeln, ist gerade Ebbe, und das Tier ist vom Schwanz aufwärts komplett sichtbar. Der weiße Bauch, die sichelförmige Finne, der steil gewölbte Kopf. Einer solchen Masse kommt Harriot nur mit Zahlen bei.
»21 in der Länge, meiner Schätzung nach. 16 in der Höhe. Den Leibesumfang würde ich mit einem Dutzend, vielleicht 13 rechnen …«
Aber sie haben weder Papier noch Schreibfeder oder Tintenfass bei sich, und sowieso ist Margaret damit beschäftigt, um den großen Fisch herumzugehen. Beschämt folgt Harriot ihr nach, bleibt stehen, wenn sie es tut, betrachtet alle klaffenden Wunden im
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