Algebra der Nacht
in den Worten klingt jetzt etwas Liebreizendes an. Von seinen Pflichten befreit, läuft er zu ihr und ruft ausgelassen:
»Wie wäre es, wenn wir uns freinähmen?«
»Heute Abend, meinen Sie?«
»Ja.«
Das trifft sie unvorbereitet, er sieht es. Auf schwer fassbare Weise ist ihm das sogar angenehm.
»Wie Sie wünschen.«
Aus der Speisekammer holen sie einen Krug herben Cidre aus Devon, Walnüsse, ein paar Stücke holländischen Käse. Harriot stopft sich die Pfeife, Margaret zündet sie ihm an der Herdkohle an. Sie treten durch die Tür, aber die Sommerluft, die sie empfängt, lässt innehalten, als träfe sie ein starker Nordwind.
Margarets Stimme klingt seltsam matt.
»Wohin sollen wir gehen?«
Er bedeutet ihr, ihm zu folgen. Sie durchschreiten ein Tor, umrunden Scharlacheichen und Weißpappeln, passieren ein Wiesenstück mit Kalkastern, einen Nachtigallengarten und gelangen zu dem großen Haus mit der Fassade aus Bather Stein. Mit schelmischem Lächeln hebt Harriot den Arm und weist zur Spitze des nordwestlichen Mauerturms.
»Da hinauf?«
»Gewiss.«
»Bis ganz nach oben, meinen Sie?«
»Du darfst meinen Arm nehmen, wenn es zu viele Stufen sind.«
Ihre Antwort klingt ein kleines bisschen spröde:
»Ich brauche keine Hilfe, vielen Dank.«
Viele Bedienstete des Hauses haben heute Abend freibekommen, und so ist niemand da, der sie aufhalten, der sie nach ihrem Ziel fragen könnte. Sie ersteigen die Wendeltreppe, und das einzige Geräusch, das ihnen folgt, ist das Scharren ihrer Schuhe.
Sie gelangen an eine dicke Holztür, die mit schwarzem Eisen eingefasst ist. Aus seinem Mantel zieht Harriot einen Schlüssel, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn herum und stemmt sich mit seinem vollen Gewicht gegen die Tür. Ächzend geht sie auf, und gleich darauf stehen er und Margaret auf dem Dach von Syon House.
Und wie anders alles aus dieser Höhe aussieht! Von hier sehen sie im Süden und im Westen die Freudenfeuer. Vieh grast auf den Weiden am Fluss. Granatapfelrot schwimmen die Sonnenstrahlen über die Weiden.
Margaret stützt sich auf ein Zinnenfenster, senkt den Kopf.
»Bist du müde?«, fragt er.
»Nein, ich denke nur an meine Jugend zurück. Meine Mutter hat uns eingeschärft, am Mittsommerabend besonders achtzugeben, damit uns nicht die Seele aus dem Leib gelockt werde.«
»Grundgütiger …«
»Schützen konnte man sich am besten dadurch, dass man die Nacht über wach und im Kreis von anderen blieb. War man hingegen so unbedacht, sich bei einem Kirchhof aufzuhalten, konnte es geschehen, dass man verlorene Seelen vorbeifliegen sah und von einer hochgerissen und fortgetragen wurde.«
»Dann wollen wir das einmal der Prüfung unterziehen. Noch heute Nacht.«
»Oh, nein! Das habe ich schon. Mit meiner Schwester. Als ich vierzehn Jahre alt war, haben wir uns zur Sankt-Botolph-Kirche geschlichen. Wir haben Decken mitgenommen und uns bei den Kindergräbern niedergelegt, weil wir dachten, sie entbehrten Gesellschaft am meisten. Ich war wohl eingeschlafen, denn der Schrei meiner Schwester hat mich geweckt. Ganz weiß war sie im Gesicht. Hat zum Friedhofstor gezeigt: Ich hab sie gesehen, Margaret! Ich hab sie gesehen. «
»Eine Seele?«
»Ja, sie hat es zuerst für ein Wölkchen Rauch gehalten. Aber die Erscheinung, sagte sie, habe etwas so Trauriges gehabt, da wusste sie, dass es die Seele eines armen Wesens gewesen sein musste.«
Das Lächeln auf Margarets Lippen verschwindet.
»Mein Vater starb, da war das nächste Jahr noch nicht herum. Und bis zum heutigen Tag glaubt meine Schwester, dass es sein Geist war, den sie in der Nacht erblickt hatte. Er besah sich seine künftige Ruhestätte.«
Harriot schluckt einen Zug Tabak, schaut über die Felder und Wälder.
»Treibt er heut Nacht sein Wesen, was glaubst du? Dein Vater?«
Sie gibt keine Antwort, und er dringt nicht in sie. Das Schweigen hüllt sie ein. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen, Sterne brechen aus der Dämmerung hervor, und die Gerüche des Tages – Klee, Heu und der Dung von Pferden und Schafen – winden ihre Fäden darum.
»Ah!«
Margaret tippt sich an die Wange.
»Das habe ich ja ganz vergessen! Warten Sie hier!«
Zehn Minuten ist sie fort, und als sie wiederkommt, ist es wirklich und wahrhaftig Nacht geworden. Sie ist außer Atem vom Treppensteigen, und was immer sie da mitgebracht hat, baumelt an ihrer Seite wie ein verkümmerter Arm. Das Mondlicht ist gerade hell genug, seine Umrisse zu enthüllen: ein Zylinder, in seinen
Weitere Kostenlose Bücher