Algebra der Nacht
kapierte ich, dass Clarissas Bemerkung nicht an die beiden Polizisten gerichtet gewesen war, sondern an mich und Alonzo. Sie hatte den Alarm ausgelöst.
»Na ja«, plapperte sie schnell weiter, »für mich war das sehr lehrreich. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, meine ich mich zu erinnern, dass Agenten von Interpol gar nicht befugt dazu sind, Personen festzunehmen.«
Von den Vordersitzen weiter Schweigen. Schließlich drehte Agent Milberg den Kopf ein paar Zentimeter weiter in unsere Richtung und nuschelte:
»Neue Vorschriften, nicht?«
»Da haben Sie sicher recht. Es muss vor kurzem eine Änderung in den Bestimmungen der Behörde gegeben haben. Die mir nicht bekannt war. Entschuldigung.«
Unvermittelt fuhren links und rechts die Türriegel nach unten.
Meine erste Reaktion war seltsamerweise Erleichterung. Man hatte uns nicht festgenommen. Es bestand keine unmittelbare Ge
fahr, dass ich ins Gefängnis kam. Weil diese Kerle so wenig Polizisten waren wie ich selbst.
Aber ebenso wenig ließ sich leugnen, dass wir uns in ihrer Gewalt befanden.
Es gab keinen Grund, zu denken, dass sie unbewaffnet waren – in den schwarzen Anzugjacken ließen sich beliebig viele Pistolen oder Revolver verbergen. Es wäre sinnlos gewesen, telefonisch Hilfe holen zu wollen. Wir befanden uns in einem fremden Land, in einem fremden Auto, das Gott weiß wohin fuhr. Wir waren, ohne Umschweife gesagt, am Arsch.
Als ich sah, wie Clarissas Finger auf ihrem Oberschenkel flatterten, nahm ich zuerst an, sie sei ebenso verzweifelt wie ich. Erst nach und nach ging mir auf, dass diese Finger sich nicht umsonst bewegten.
Soll heißen: sie simste.
Und zwar so flink wie eine vom Schulunterricht angeödete amerikanische Göre, die nur ab und zu nach unten linste und kontrollierte, wie weit sie schon gekommen war. Keine Minute, da hatte Clarissa die Mitteilung getippt und gesendet, und ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, an wen sie wohl ging, denn im nächsten Moment sprang lautlos Alonzos Handy an.
Er schielte auf das Display, warf Clarissa einen fragenden Blick zu und löschte die Nachricht durch zweimaliges Drücken. Sammelte sich. Wischte sich dann schwerfällig mit dem Handrücken über die Stirn.
»Verzeihung«, sagte er. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Klimaanlage einzuschalten?«
Clarissa ließ zwanzig Sekunden verstreichen.
»Alonzo«, sagte sie. »Was ist los?«
»Mir ist nicht gut«, sagte er, presste die Finger an die Schläfen und schwankte sacht. »Nicht … mein Mund …«
» Was ist mit deinem Mund?«
»So ein Kribbeln …«
Diesmal ging es schneller.
»Himmel«, flüsterte Clarissa.
Das Zittern begann in Alonzos Kopf. Dann pflanzte es sich zen
timeterweise durch seinen Hals nach unten fort und strahlte in seine Arme und Finger aus, und zuletzt schien die Luft regelrecht davon zu vibrieren.
Agent Milberg wandte sich halb nach hinten um.
»Tatterich, was?«
»Falls Sie mit Tatterich …« Clarissa gab sich alle Mühe, die Fassung wiederzuerlangen. »Falls Sie mit Tatterich einen hypoglykämischen Schock meinen, dann ja, dann hat er einen Tatterich. Alonzo, sag doch. Wann hast du dein Insulin zuletzt genommen?«
Insulin .
»Gestern … Abend«, murmelte er zwischen zwei Zuckungen.
»Gestern Abend ? Großer Gott …«
Und da klinkte ich mich ein.
»Es ist meine Schuld«, sagte ich.
Clarissa fuhr zu mir herum.
»Wovon redest du?«
»Ich hab ihm gesagt, er soll das Insulin nicht ins Handgepäck tun.«
» Warum denn das ?«
»Du weißt doch, wie sich die Flughafensicherheit wegen Nadeln anstellen kann.«
»Na, toll, Henry. Wow, ein toller Ratschlag, vielen herzlichen Dank. Alonzo, hör mir zu. Wo sind die Spritzen?«
Er ächzte. Das Zittern hatte inzwischen seinen Oberkörper erfasst.
»Wo?«, fragte Clarissa. »Sag mir einfach, wo …«
»Koffer …«
Clarissa richtete sich auf. Stieß einen Luftstrom aus.
»Mist.«
Schwer zu sagen, wie viel die erste Reihe von unserer kleinen Theateraufführung mitbekommen hatte. Agent Milberg war zumindest so gerührt, dass er sagte:
»Wir sind gleich da.«
»Ähm …« Clarissa presste die Zeigefinger an den Nasenrücken. »Das ist zu spät. Ich schlage Ihnen einen Deal vor.«
Da sie keine Antwort erhielt, legte sie in einem Ton, spröde vor Nervosität, nach:
»Würden Sie ihn sich bitte anschauen ?«
Als Agent Milberg sich schließlich erweichen ließ und nachsah, erblickte er dies: einen (vorsichtig geschätzt) 240 Pfund schweren Mann mit
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