Algebra der Nacht
Maßen nicht fremd, in eine grüne Haut gewickelt …
Sein Teleskop.
»Ich hab mich schon gefragt, wo das abgeblieben ist.«
»Ich hab es arg beansprucht …«
Sie presst die Rechte aufs Brustbein, wartet, dass die Luft wiederkommt.
»Es sieht nicht lädiert aus, Margaret.«
»Sogar besser, hoffe ich. Erinnern Sie sich? Sie sagten mir, eine – eine veränderte Anordnung von – von konkav und konvex – ergäbe womöglich eine stärkere Vergrößerung?«
»Meine Überlegungen gingen in diese Richtung …«
»In meinen freien Stunden habe ich Ihre Theorie behutsam der Probe unterzogen. Ich habe mich auf das Sinusgesetz besonnen und die Winkel verändert – desgleichen die Linsendurchmesser. Es wäre ermüdend, jede Einzelheit ausführlich zu beschreiben,
aber nach vielerlei Irrtum und Konfusion glaube ich, habe ich die Vergrößerung um einen Grad oder zwei erhöht. Aber darüber müssen Sie befinden.«
Er nimmt ihr das Teleskop ab. Hebt es sich vors Auge. Schwenkt es über den Himmel.
»Margaret, das ist …«
»Ja?«
»Das ist ganz außerordentlich!«
»Glauben Sie?«
»Oh, ganz gewiss! Alles ist sehr angenehm vergrößert! Die Auflösung und die – die Körnung …«
Ein Lachen entschlüpft seiner Kehle, als ein Sternenschwarm ihm entgegenschwimmt.
»Meine alten Freunde! Erstrahlen wie neu. Da die Waage … da der Kleine Bär . . da …«
Der Mond , will er gerade sagen. Nur sitzt er in einem anderen Himmelsquadranten.
Hin und her schwenkt er das Glas, will seinen Sinnen nicht trauen. Es sind zwei Monde. Der eine gleicht dem alten Mond. Der andere ist blasser und kleiner, bereit, sich jeden Moment wieder in die Dunkelheit zurückzuziehen …
Allmächtiger.
»Die Venus.«
Er flüstert den Namen. Flüstert ihn abermals.
» Venus …«
Viele Jahrhunderte lang haben Männer von Venusphasen gesprochen, aber nur wenige haben sie mit bloßem Auge gesehen. So wenige eigentlich, dass Harriot schon nicht mehr glaubte, dass sie existieren.
Und jetzt ist die Legende im Handumdrehen Wahrheit geworden. Dort steht die Venus. Klebt am himmlischen Tintenklecks wie das Abgeschnittene eines Daumennagels.
Bestürzt fühlt er seine Augen weicher werden. Nicht von der alten Feuchte, die nach Pech und Galle schmeckte, sondern von etwas Klarerem.
Schon stammelt er seine Rechtfertigung.
»Wohl der Rauch … der über den Fluss kommt …«
Sie nimmt seine Hand und sieht ihn an. Wie wohltuend, dass kein Mitleid in ihrem Blick liegt. Er kann nur eines sagen:
»Danke, Margaret.«
Und dann küsst er sie. Und ihre Lippen, die er in seiner früheren Blindheit für zu schmal hielt – sie schwellen unter seiner Berührung. Und sie schmecken nach ihr .
35
G eliebte .
Nichts wird klarer oder weniger seltsam dadurch, dass man es tut. Wie vernünftig, denkt er, doch die alten Römer waren. Sie wussten, wie schwer das Wild zu fangen ist, und setzten ihm deshalb mit einem Bataillon von Verben nach. Amare , nannten sie es. Und diligere und delectare und placere und observare .
Wo in diesem sprachlichen Gemenge befinden sich seine Gefühle? Amare , ja, etwas davon hat er schon kennengelernt. Als er als junger Mann nach London kam, frequentierte er den Cardinal's Hat, wo erfahrene Frauen, die keine Umstände machten, sich für achtzehn Pence auf einem Lager niederließen und gerade so viel aufknöpften, dass der Akt vollzogen werden konnte.
Es ist ihm nie in den Sinn gekommen, dass man denselben Akt auch mit Muße vollziehen, dass man ihn anbahnen und anfachen, auskosten und im Gedächtnis bewahren kann … noch mehr Verben! Es gibt Tage, da fühlt er sich, als müsse er die ganze Welt neu durchkonjugieren. Und andere Tage, da fühlt er sich …
»Zu alt.«
So sagt er es einmal unbedacht. Es ist kurz vor Tagesanbruch, und sie liegen in seinem Himmelbett, aneinandergeschmiegt wie Schlitz und Zapfen. Seine Hand umkreist diesen wundersamen Schopf honigblonden Haars, den Teil der weiblichen Anatomie, der ihm nie zuvor aus freien Stücken gewährt worden ist.
»Zu alt wofür?«, fragt sie.
»Für das hier. Für dich.«
»Oh …«
Sie legt den Arm um ihn, streichelt die Stelle zwischen seinen Schulterblättern.
»Wie weich deine Haut ist. Eine Kinderhaut.«
Aber es hat nichts auch nur entfernt Mütterliches, wie ihre Finger seine Rippen hinabtrippeln, sich um seine Beckenknochen schließen. Und auch das ist eine Offenbarung: Dass sein Leib, den er fast sein ganzes Leben lang verhüllt hat,
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