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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Unterbauch und am Kopf des Tiers und sieht sich ständig genötigt zu erklären .
    »Ohne Zweifel ist er während seiner Reise mit Booten zusammengestoßen. Oder aber ist über das Flussbett geschleift worden. Meinen eigenen Lotungen nach ist die Themse an keiner ihrer Schleifen mehr als zwei Faden tief …«
    Margaret geht einfach weiter.
    »Außerordentlich, nicht wahr, Margaret? Dass er überhaupt noch atmet, meine ich, nach so langer Zeit. Ich habe noch nie einen Fisch mit einer solchen Fähigkeit zur –«
    Und dann zieht sich die Haut des Fischs in Falten zurück und entblößt ein Auge.
    Wimpernlos, trocken, blutunterlaufen … bestürzend klein. Einige lange Sekunden lang bebt es in seiner Höhle, sinkt dann blicklos zurück. Und das ändert alles, Harriot kann nur nicht genau angeben, inwiefern.
    Margaret hebt den Kopf. Murmelt:
    »Flussaufwärts.«
    »Wie bitte?«
    »Es hat flussaufwärts geblickt. Das ist doch höchst sonderbar, nicht? Warum nicht flussabwärts? In die Richtung, aus der er gekommen ist?«
    »Nun, ich vermute, es ging nicht anders. Es ist – ist schlicht die Richtung, in der er auf Grund gelaufen ist.«
    Margaret schüttelt den Kopf.
    »Er wird nicht ohne Grund gekommen sein.«
    »Du meine Güte, ein Fisch, wie sollte der … eher wird ihn irgendeine magnetische Verschiebung in den Gezeiten des Meeres verwirrt haben. Vielleicht im Verein mit der Bewegung der Sterne. Ich habe längst bemerkt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Bewegung des Mars um seine Umlaufbahn und …«
    Margarets Lippen fallen herab, wie sie es immer tun, wenn sie sich konzentriert. Nur konzentriert sie sich nicht auf ihn.
    »Was, wenn wir ihn schöben?«, fragt sie.
    »Ihn schöben?«
    »Ins Wasser zurück?«
    »Meine liebe Margaret …«
    »Dann findet er vielleicht zurück.«
    »Das ist wider alle Vernunft. Das Tier wiegt gute zwei Tonnen. Wir brauchten hundert Männer allein dafür, es vom Flecke zu bewegen, und selbst dann hätte das Geschöpf die Kraft nicht, die es für seine Reise benötigt …«
    Aus ihm spricht die reine Vernunft. Doch wann ist die Vernunft ihm jemals so unzulänglich erschienen wie jetzt?
    Margaret legt die Hand auf die von der Sonne gebleichte Flanke des Fischs. Lässt sie dort liegen. Dann sagt sie im Tone leisen Staunens:
    »Wie spät es geworden ist. Wir müssen nach Hause.«
     
    Ein Regenschauer spät am Abend verlängert das Leben des Fischs noch um eine kurze Spanne. Am nächsten Morgen, um drei Minuten nach sieben, haucht er sein Leben aus. Einen Tag lang ziehen die Gaffer noch vorbei. Dann wird das Tier in Stücke gehauen und in großen Kesseln gekocht, um Tran zu gewinnen. 
     
    In den folgenden Tagen gelangt Harriot immer fester zu der Überzeugung, dass sich zwischen ihm und Margaret etwas verändert hat. Da ihm die Mittel fehlen, seine Theorie zu verifizieren, ertappt er sich dabei, dass er sie heimlich beobachtet, wenn sie nicht hersieht, und Hypothesen für ihr Schweigen ersinnt. Nur in tapferen Momenten riskiert er es, sie direkt zu fragen.
    »Bist du glücklich hier, Margaret?«
    »Ja.«
    »Ich meine zufrieden.«
    »Ja, natürlich.«
    »Du ersehnst dir keine andere Beschäftigung?«
    »Diese ist mir recht.«
    Die Worte sollen ihn beruhigen, er weiß das, aber hätten Astrophil und Stella so miteinander gesprochen?
    Und wie genau ging es zu, dass Thomas Harriot sich Sidneys Liebende zum Vorbild nahm?
    Etwas in seinem Innern wird weicher, kein Zweifel. Öfter als ihm recht ist fällt er in seine Vergangenheit zurück, in seine Kindheit, eine Gewohnheit, die sich mit dem Heranrücken des Mittsommerabends immer stärker ausprägt. Es war die eine Nacht im Jahr, in der sein Vater getanzt hat. (Den Bischof-von-Chester-Jig, den einzigen Tanz, den er beherrschte.) Es war der einzige Abend, an dem Harriot sich in der Gesellschaft seines Vaters sicher gefühlt hat. Und wenn er die Augen schließt, spürt er noch heute das Lodern der alten Freudenfeuer. Und sieht im Geiste, wie er selbst, nicht älter als sechs oder sieben Jahre, Kienspäne ins Feuer wirft, Birkenreisig sammelt und Rittersporn und Johanniskraut über dem Türsturz befestigt.
    Schließlich ist der 24. Juni da, und Harriot wird immer fah
riger. Er kleckst beim Zahlenschreiben, zerbricht Glasfläschchen, bittet Margaret wieder und wieder, ihre Worte zu wiederholen. Schließlich kehrt er sich heftig vom Arbeitstisch ab.
    »Ich kann nicht.«
    Worauf sie sagt, was sie immer sagt. »Wie Sie wünschen.«
    Aber

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