Alibi für einen König
er nicht die ehrgeizige Lakaienseele, als die ich ihn mir immer vorgestellt habe.«
»Das ist interessant. Wie erging es ihm denn unter Heinrich VII.?«
»Da wird es nun wirklich interessant. Für einen so hervorragenden und erfolgreichen Diener der Familie York scheint er unter Heinrich nicht schlecht floriert zu haben. Heinrich ernannte ihn zum Festungskommandanten von Guisnes. Dann wurde er als Gesandter nach Rom geschickt. Er war einer der Unterhändler beim Vertrag von Etaples. Und Heinrich bewilligte ihm lebenslänglich die Einkünfte einiger Ländereien in Wales, ließ ihn diese aber später gegen gleichwertige Einkünfte aus der Grafschaft Guisnes austauschen – es ist mir unverständlich, weshalb.«
»Mir nicht«, sagte Grant.
»Ihnen nicht?«
»Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß all seine Ehrenämter und Aufträge außerhalb Englands liegen? Und nun sogar die Ländereien, aus denen er seine Einkünfte bezieht.«
»Ja, das stimmt. Und was schließen Sie daraus?«
»Im Augenblick gar nichts. Vielleicht war das Klima von Guisnes seinem Bronchialkatarrh zuträglicher. Man kann in historische Tatsachen zu viel hineinlesen. Sie lassen sich, wie die Stücke Shakespeares, beliebig interpretieren. Wie lange dauerte denn dieser Honigmond mit Heinrich VII.?«
»Oh, ziemlich lange. Bis zum Jahre 1502 war alles überaus rosig.«
»Und was geschah 1502?«
»Da kam Heinrich zu Ohren, daß Tyrrel bereit gewesen war, einem aus der York-Gesellschaft, der im Tower saß, zur Flucht nach Deutschland zu verhelfen. Er bot die gesamte Garnison von Calais zur Belagerung der Burg von Guisnes auf. Das schien ihm aber dann doch zu langwierig zu werden, und so schickte er seinen Lord-Siegelbewahrer zu Tyrrel und sicherte diesem freies Geleit zu, wenn er in Calais an Bord eines Schiffes käme und mit dem Schatzkanzler spräche.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Das ist ein Ding, was? Er landete in einem Verlies im Tower und wurde am 6. Mai 1502 geköpft. Wie es heißt, ›in großer Eile und ohne Verhandlung‹.«
»Und was ist mit seinem Geständnis?«
»Es gab kein Geständnis.«
»Was?«
»Schauen Sie mich nicht so an. Ich kann nichts dafür.«
»Aber ich dachte, er hat den Mord an den Knaben gestanden.«
»Ja, verschiedenen Berichten zufolge. Aber es sind nur Berichte. Ein schriftliches Geständnis ist uns nicht überliefert.«
»Sie meinen, Heinrich hat kein Geständnis veröffentlicht?«
»Nein. Sein bezahlter Historiker, Polydore Virgil, berichtet den Hergang des Mordes. Aber da war Tyrrel schon tot.«
»Aber wenn Tyrrel gestand, daß er auf Richards Befehl die Knaben ermordete, weshalb hat man ihn dann nicht dieses Verbrechens angeklagt und öffentlich abgeurteilt?«
»Keine Ahnung.«
»Lassen Sie mich noch einmal wiederholen: Von Tyrrels Geständnis erfuhr man erst nach Tyrrels Tod?«
»Ja.«
»Tyrrel gesteht, daß er 1483, vor beinahe zwanzig Jahren, von Warwick nach London eilte, sich vom Kommandanten die Schlüssel des Tower aushändigen ließ – den Namen des Mannes habe ich vergessen –«
»Brackenbury. Sir Robert Brackenbury.«
»Richtig. Sich also die Schlüssel des Tower von Sir Robert Brackenbury für eine Nacht aushändigen ließ, die Knaben ermordete, die Schlüssel wieder zurückgab und Richard Bericht erstattete. Dies gesteht er und klärt damit ein Geheimnis, das größtes Aufsehen erregt haben muß. Und trotzdem wird er nicht vor der Öffentlichkeit dafür zur Rechenschaft gezogen?«
»Ja. So ist es.«
»Also, mit einer solchen Geschichte würde ich ungern vor Gericht erscheinen.«
»Ich würde nicht im Traum daran denken. Es ist eine der faulsten Geschichten, die ich je gehört habe.«
»Hat man sich denn nicht diesen Brackenbury vorgeknöpft, damit er die Geschichte mit den ausgehändigten Schlüsseln bestätigen oder für falsch erklären konnte?«
»Brackenbury fiel in der Schlacht von Bosworth.«
»Der ist also auch zum richtigen Zeitpunkt gestorben.«
Grant sank in die Kissen zurück und dachte nach. »Wissen Sie, wenn Brackenbury bei Bosworth fiel, dann haben wir noch immer ein kleines Beweisstück zu unsern Gunsten.«
»Wie? Was?«
»Wenn das wirklich geschehen ist, ich meine, wenn die Schlüssel auf Richards Befehl für eine Nacht ausgehändigt wurden, dann müssen eine Menge von Unterbeamten im Tower Kenntnis davon gehabt haben. Es ist ganz unvorstellbar, daß nicht der eine oder der andere Heinrich die Geschichte sofort erzählt hätte, als dieser den Tower übernahm.
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