Alice Browns Gespuer fuer die Liebe
Audrey gab sich Mühe, etwas langsamer zu gehen, um nicht mit hochroten Wangen dort anzukommen, aber ihre Füße wollten ihr nicht gehorchen. Es war, als würde sie von John wie ein Magnet angezogen, seinem Kraftfeld hilflos ausgeliefert. So viele Jahre hatte sie darauf gewartet; wie könnte sie es da noch einen Moment länger hinauszögern?
Dann ging sie die Stufen zum Eingang des Restaurants hinauf. Das Foyer war hell und geschäftig, doch Audrey merkte nichts von alledem. Sie bemerkte auch nicht, wie die Empfangsdame auf sie zukam, um sie nach ihrer Reservierung zu fragen. Sie sah nur den Eingang zum Speisesaal und hielt darauf zu wie auf das helle Licht am Ende eines langen Tunnels.
Plötzlich stand sie im Restaurant und musterte ungeduldig die anwesenden Gäste. Ihre Augen suchten den Mann, den sie liebte.
Da sah sie ihn. Lachend. Um die wunderschönen blauen Augen hatte er Lachfältchen, so wie immer, wenn er lächelte, und Audrey schnappte nach Luft, und die Knie wurden ihr weich. Er nahm eine Flasche – seine Hand so stark und so vertraut – und goss Wein in ein Glas. Das Glas seines Gegenübers. Audreys Blick fiel auf die Person, die mit ihm am Tisch saß. Es war eine Frau. Eine Frau in einem rückenfreien Kleid.
»Kann ich Ihnen helfen, Madam?«
Ein Kellner hatte sich ihr in den Weg geschoben und verstellte ihr so die Sicht auf John, wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis. Wie in Trance machte Audrey einen Schritt zur Seite, und die Sonne ging wieder auf, als John und die Frau wieder in ihr Blickfeld rückten.
»Ich suche meinen Mann«, murmelte sie.
Stumm, wie in einem Traum, ging Audrey auf John zu. Noch hatte er sie nicht gesehen, hatte noch nicht gespürt, dass sie da war. Er lächelte die Frau in dem rückenfreien Kleid an und hörte gebannt, was sie ihm zu erzählen hatte. Beim Reden strich sie sich das Haar hinters Ohr, und ein langer, filigraner Ohrring blitzte auf, der die zarte Haut ihres Nackens zu liebkosen schien. Ihr bloßer Rücken wirkte im sanften Kerzenlicht seidig und kaschmirweich. Doch Audrey ging unbeirrt weiter.
Und dann bewegte sich John. Zuerst dachte Audrey, er habe sie endlich gesehen und würde sich nun ihr zuwenden. Aber stattdessen beugte er sich über den Tisch, nahm das Gesicht der Frau in beide Hände und lehnte sich langsam, ganz langsam vor, um sie auf den Mund zu küssen. Johns Lippen berührten die der Frau, und in diesem Moment jaulte Audrey auf wie ein geprügelter Hund. John fuhr hoch und entdeckte sie. Erstaunt schreckte er zurück und starrte sie an. Wie in Zeitlupe sah die Frau erst John an, dann drehte sie den Kopf und folgte seinem Blick. Ihr Ohrring funkelte, als sie sich in Richtung Audrey wandte, und Audrey erkannte sie.
Entsetzt schnappte sie nach Luft.
Es war Alice.
Ihre Welt hörte auf, sich zu drehen.
Sie hörte nur noch ihren eigenen Herzschlag, und dann, ganz langsam, drangen Johns Worte zu ihr durch, gedämpft wie hinter Glas.
»Audrey! Was machen Sie denn hier?«
Audrey klappte den Mund auf und zu, aber es kam kein Ton heraus. Sie schaute John an. Alice konnte sie nicht ansehen. Es war zu viel für sie, zu was für einer mondänen Schönheit sich das graue Mauerblümchen gemausert hatte. Alice, die Träumerin. Alice, das Ärgernis. Doch den Anblick der neuen Alice, die da mit ihrem John am Tisch saß, konnte sie erst recht nicht ertragen.
»Es tut mir schrecklich leid, Audrey.« Die Worte kamen aus Alice’ Richtung.
Audrey fixierte John. Der erste Schreck ließ langsam nach, und er schien die Beherrschung wiederzuerlangen.
»John?«, hörte Audrey ihre eigene Stimme fragen.
Sein Gesicht wurde weich, und sein Mund formte ein tröstendes Wort. Einen kurzen Augenblick lang glaubte Audrey, er werde ihr versichern, es sei alles in bester Ordnung und das Ganze nur ein furchtbares Missverständnis.
»Auf diese Weise sollten Sie das eigentlich nicht erfahren«, sagte er sanft. »Aber vielleicht ist es besser so.«
Audrey blinzelte. Johns Gesicht verschwamm vor ihren Augen, und sie wusste nicht recht, warum. Irgendwas trübte ihre Sicht, flutete ihre Augen. Das Atmen fiel ihr schwer. Man hatte ihr ein Messer in die Brust gerammt. Zwar hatte sich niemand vom Fleck gerührt, aber irgendjemand musste unbemerkt ein Messer genommen, es ihr zwischen die Rippen geschoben und mitten ins Herz gestoßen haben.
Dann fingen ihre Füße an zu laufen. Audrey stürzte durch das Foyer nach draußen, hinaus in die Nacht. Auf der Straße stieß sie mit
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