Alicia II
kleines bißchen.«
»Ich war mir keiner Ähnlichkeit, die auch nur von leisestem Interesse sein könnte, bewußt«, sagte er. Es klang freundlich – sarkastisch, aber freundlich –, und deshalb bohrte ich weiter.
»Mein Vater war empfindsam, zu empfindsam für seine Zeit, zu empfind …«
»Dann kann es natürlich keine Ähnlichkeit gegeben haben.«
Er stellte nichts mit seinem Gesicht an, das auf Humor hingewiesen hätte.
»Nun, ich habe nicht sagen wollen, Sie seien nicht empfindsam. Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Mein Vater war ein Eskapist.«
»Vielleicht sind wir uns doch nicht ganz unähnlich. Auch ich neige ein wenig zu jener Richtung. Wie war er?«
Ich war beinahe sprachlos. Claude Reynal hatte tatsächlich mir eine Frage gestellt! Schließlich entzog ich mich dem Bann dieser vorgebeugten Haltung, dieser grauen Augen und antwortete: »Nun, er reagierte auf seine Zeit, die Ansichten, die Krisen. Sie wissen schon, Verbrechen, Lebensmittelmangel, überfüllte Wohnungen, Haß, Heuchelei …«
»Ich habe undeutliche Erinnerungen an einige dieser Zustände. Wie viele andere Menschen habe ich aus ihnen der Bequemlichkeit halber Geschichte gemacht.«
»Ach ja? Jedenfalls, wie ich schon sagte, versuchte mein Vater, diesen Zuständen zu entkommen. Er schleppte uns, die Familie, im ganzen Land umher. Er war auf der Suche nach einem – einem besseren Leben, würden Sie es wohl nennen.«
»Ja, das würde ich.«
Ich wünschte, er würde seinen Körper um den halben Zoll, den er sich mir entgegengeneigt hatte, wieder aufrichten.
»Das Endergebnis war, daß mein Vater auf seiner Suche da landete, wo er hergekommen war. Im übertragenen Sinne, meine ich.«
»Ja, ja, verstehe.«
Ich kam nicht dahinter, welches Spiel Reynal mit mir trieb.
Ich spürte nur, daß er die Figuren manipulierte.
»Im wesentlichen fanden wir überall die gleichen Bedingungen. Die großen Städte litten unter Überbevölkerung, die kleinen Städte waren verbarrikadiert. Die leichteren Zeiten, die Zeiten der Weltregierung und des Erneuerungs-Wunders, sollten ja erst kommen.«
»Das Wunder, ja, so ist es.«
Irgend etwas – aber diesmal nicht Reynal – drängte mich, nicht weiterzureden.
»Ich weiß es nicht bestimmt, ich vermute es nur. Es wurde eben alles zu schwierig für ihn.«
Ich machte eine Pause und wartete darauf, daß er etwas sagte, zum Beispiel ja, ja, zu schwierig, aber er blieb stumm und blickte mich an.
»Er versuchte, uns allen hindurchzuhelfen. Er riet mir – das fällt mir jetzt gerade ein, ich hatte es vergessen –, das Beste aus meinem Leben zu machen, zum Wohle der Menschheit zu wirken, alles zu tun, um die Ausbreitung von Intelligenz und menschlichem Mitgefühl zu fördern. Das hört sich für Sie wohl alles recht töricht an?«
»Ganz und gar nicht.«
»Er verwandte viel Zeit darauf, mir Ratschläge dieser Art zu geben. Im Alter wurde er ein bißchen senil. Mehr als ein bißchen. Dauernd drohte er mit Selbstmord. In seinen letzten Tagen wachte ich bei ihm und gelobte, mein Leben der Arbeit für die Menschheit zu weihen, ganz wie er es wünschte. Nach seinem Tod überwachte ich den Transport seiner Leiche zur nächsten Erneuerungskammer, und wenige Tage später kam die schlechte Neuigkeit.«
»Schlechte Neuigkeit?«
Ich glaube, er neigte sich noch einen halben Zoll weiter vor.
»Ja. Sehen Sie, es war irgendein Fehler passiert, der vielleicht auf ihn selbst, vielleicht auf den Erneuerungsprozeß zurückzuführen war. Die Übertragung seiner Seele aus seinem natürlichen Körper in einen Konservierungsbehälter, wo sie hätte ruhen können, bis eine Hülle zur Verfügung stand, war mißlungen. Man schickte eine Nachricht, er
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