Alicia II
hatte ich nicht einmal dreißig Leute gesehen und vielleicht mit der Hälfte von ihnen gesprochen. Noch heute denke ich voll Sehnsucht an diese Einsamkeit zurück, aber jetzt träume ich des Nachts von einer verwüsteten Stadt, über deren Eingang in grünen schmiedeeisernen Lettern »Paradies« geschrieben steht. Kein Wunder, daß man Spa schließlich auch zu einem Plastistrand machte, einer blassen Imitation des Originals, aber sorgfältig geplant, voll leuchtender Farben und Glanz und mit mehr Luxus, als der zivilisierte Mensch sich wünscht. Eine überwältigende Liste von Vergnügungen wird einem in alphabetischer Reihenfolge angeboten, so enzyklopädisch ist sie, und das häufige Reiben von Haut gegen Haut macht den Aufenthalt dort zu wirklichen Ferien.
Ich schlug vor, den Rapzug (die offizielle und nur gelegentlich benutzte Bezeichnung für das Rapid-Transit-Überland-System) statt eins der billigeren, schnelleren und zweckdienlicheren Verkehrsmittel zu nehmen. Mr. Reynals erklärte sich damit einverstanden. Anscheinend war er mit allem einverstanden. Vielleicht gab er mir nach, weil mir mein romantisches Bedürfnis, an allen sterbenden Künsten teilzuhaben, zu deutlich anzumerken war.
Es gab Leute, die Rapzüge in ihrem heruntergekommenen und gar nicht mehr rapiden Zustand bevorzugten. Wenn man nicht in der Stimmung war, schnell an einen anderen Ort zu gelangen, boten sie einem eine Fahrt in aller Muße, und das ohne Unbequemlichkeiten, ohne Gasvergiftung und ohne Angst. Mit Rapzügen konnte man die meisten wichtigen Orte des amerikanischen Kontinents erreichen. Wir leben in einem Zeitalter, das den Fortschritt an den Stolperern mißt, die in der Richtung nach vorn gemacht werden, und da sollte man es vielleicht nicht so tragisch nehmen, daß die Tunnel, die das ganze Land unterminieren, aufgegeben wurden. Aber ich finde es doch bedauerlich, daß man die Rapzüge zugunsten unterirdischer Einkaufszentren und Verbrauchermärkte abgeschafft hat.
Ich weiß noch, daß ich, als wir vor dem Drehkreuz anstanden, darüber nachdachte, welch verzweifeltes Problem die Übervölkerung vor zwei Jahrhunderten gewesen ist. Damals sagten Propheten den unausweichlichen Untergang laut Malthus voraus. Doch statt angesichts der offensichtlichen Entwicklung klein beizugeben, hatten wir sie positiv gestaltet.
Wir hatten uns nach außen und unten ausgedehnt, nahrhafte Lebensmittel-Ersatzstoffe erfunden und Land wieder urbar gemacht. Wir hatten neuen Raum in den aufgegebenen Rapzug-Tunneln und unterirdischen Höhlen gewonnen. Die Gebäude bohrten sich tiefer in die Erde und stiegen höher zum Himmel empor. Jetzt war das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen. Laute Rufe forderten stärkere Vermehrung, um den Planeten mit einer Zahl an Menschen zu überschwemmen, die den zu verantwortenden Höchstwert der alten Propheten überstieg. Denn wir sahen uns mit einem Bevölkerungsproblem anderer Art konfrontiert. Alle unsere genetischen Forschungen und Experimente konnten es nicht erzwingen, daß mehr Kinder geboren wurden, deren Schicksal es war, bei den Tests ausgemustert zu werden und ihre Körper zur Verfügung stellen zu müssen. Warum zeugt ihr nicht mehr Babys? schrie die verzweifelte Gesellschaft den allzu lethargischen ausgemusterten Eltern zu. Nicht nur lag die Geburtenrate zu niedrig, die ausgemusterten Eltern lieferten auch nicht genug unterqualifizierte Babys, und das trotz der entsprechenden Gene. Sie fuhren fort, zur Klasse der Privilegierten beizutragen und nicht genug Wesen ihrer eigenen Art in die Welt zu setzen.
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