Alicia II
hofften, das sich zur gegebenen Zeit nicht qualifizieren würde? Jede politische Abweichung kann verziehen werden, wenn ein Wiederverwertungskörper auf dem Spiel steht.
Als der Tag näherrückte, an dem Alicia I in die Erneuerungskammer geschickt werden mußte, arbeitete Claude Reynal sich durch Berge von Akten. Er suchte nach einem Schlupfloch, nach einer Sondererlaubnis. Ein besonders widerwärtiger Bürokrat sagte ihm, er könne sich glücklich schätzen, Alicias Schwangerschaft wegen eine zusätzliche Zeitspanne bekommen zu haben, und jetzt gebe es keinen Ausweg mehr. Trotzdem verlangte und erhielt er eine zweite Testwiederholung. So etwas hatte es noch nie gegeben, und es war auch vergeblich. Wie zuvor lag ihr Testergebnis eine Winzigkeit unter dem Minimum für die Qualifikation.
Ausnahmen wurden nicht gemacht.
Wie mag sie ausgesehen haben, als sie in der Schlange stand?
Ob sie, die sich immer von den anderen ihres Status unterschieden hatte, auf dem ganzen Weg bis zum Eingang der Kammer lächelte?
Mehr als das, was ich aus dem widerstrebenden Claude Reynal herausholte, zuzüglich der paar Informationen, die ich mir durch andere Quellen beschaffte, hätte ich nicht erfahren, wenn nicht ein glücklicher Zufall eingetreten wäre. Während meiner letzten Tage in Atlantica Spa machte eine Tante Alicias väterlicherseits einen Überraschungsbesuch.
Offensichtlich konnte Mr. Reynal sie nicht ausstehen, denn er fand ständig Ausreden, um ihr aus dem Weg zu gehen. So saß ich viele Stunden zu Füßen der schwatzhaften Frau, einer Erneuerten, die in ihrem zweiten Körper schon wieder alterte, und hörte mir den letzten Teil der Geschichte von Alicia I an.
In der Erneuerungskammer löschte man das Bewußtsein der ersten Alicia endgültig aus. Der immer noch lebende Körper, zur leeren Hülle geworden, wurde durch eine Reihe von Röhren in die Inspektionskammer gesaugt. Dort zeichneten die Inspektoren mit rotem Stift die notwendigen Reparaturen an, und die als Chirurgen ausgebildeten Mechaniker kamen ihrer Aufgabe nach, Teile instandzusetzen oder auszutauschen.
Andere Röhren beförderten die Hülle in die Nährkammer, wo man den Körper der ersten Alicia pflegte und ernährte, bis das alte Wrack, das ihn erben sollte, entweder starb oder gestorben wurde. Nach einer Reise durch wieder neue Röhren wurde die neue Bewohnerin der Hülle implantiert und angeschlossen.
Schließlich trat die frühere Alicia unsicher aus dem Rekonvaleszentenhaus. Sie war jetzt Martina Skotch, die berühmte Kybernetik-Psychiaterin, die sich in ihrem neuen Leben einen Namen als Hauptdarstellerin in Fühlfilmen machte, bevor sie verboten wurden. Mit anderen Worten, sie machte von dem Körper der ersten Alicia den angemessenen Gebrauch. Funktional.
Wenn die zweite Alicia darüber Bescheid gewußt hätte, was hätte sie bei einem Fühlfilm mit Martina Skotch empfunden?
Hätte sie voll Haß gegen die Emotionen angekämpft, die der Film ihr aufzwingen wollte? Ich stellte sie mir vor, angeschlossen an eine Simulation der Nervenzentren Martina Skotchs, teilhabend an den Aufwallungen, die die Schauspielerin entsprechend dem Inhalt des Films in sich erzeugt hatte. Alicia, die mit Martinas Augen sah und mit ihren Händen berührte. Hätte Alicia in dem Teil ihres Bewußtseins, der auch während des Fühlfilms selbständig und unverändert blieb, darüber nachgedacht, daß diese Hülle, jetzt ein simulierter Teil ihrer selbst, einst ihrer Mutter gehört hatte?
Daß sie in diesem Leib, der sich jetzt in Leidenschaft wand, einmal geborgen gewesen war?
Weitere Kostenlose Bücher