Alicia II
Abwegigere Fragen als diese sind Fühlfilmbesuchern schon mitten in einer Vorstellung durch den Kopf geschossen. Kein Wunder, daß man sie verbot, sagten ihre Gegner später.
Hätte Alicia II für den als Opposex bekannten Nervenkitzel, bei dem die Frau in die Rolle des Mannes schlüpfte und umgekehrt, extra bezahlt? Dann hätte sie, zusammengeschaltet mit Aren Kral oder Steve Dimond oder welcher Schauspieler gerade zu der Zeit der Publikumsliebling war, sich die Hülle von Martina Skotch ansehen, ein paar Jahre abziehen (aber nicht die Gesamtzahl der Jahre seit dem Tod der ersten Alicia, weil Martina alles tat, um sich kosmetisch und chirurgisch jung zu erhalten) und die Schönheit ihrer Mutter studieren können.
Vielleicht ihre eigene Schönheit an der Quelle.
Aber Opposex wurde nach kurzer Blütezeit aufgegeben, und Martina Skotch verblaßte in ihrer Abgeschiedenheit. Das Publikum vergaß ihre Filme, die nicht einmal mehr für Vorführungen ohne Fühleffekte wieder aus der Mottenkiste geholt wurden. Wie ich hörte, waren Martinas Fühlfilme einfach fürchterlich, aber trotzdem bedauere ich manchmal, daß ich sie verpaßt habe. Die zwei oder drei Fühlfilme, die ich gegen Ende meiner ersten Lebensspanne sah, als sie für mich wenig praktischen Nutzen mehr hatten, waren meiner Meinung nach unvollkommen synchronisiert. Liebesszenen vermittelten nicht die richtigen Berührungen und Emotionen. Regentropfen trafen das Gesicht, ließen es aber trocken. Essensdüfte reizten zwar den Appetit, und dann kam die herbe Enttäuschung, weil der Geschmack fehlte.
Ein Spezialist für Wiederbelebungstechnik, von Alicias Vater bestochen, spielte diesem die Information zu, und Reynal schlich sich in das Foyer, wo die neue Martina ihren ersten großen Auftritt in der Welt hatte. Er ging nahe an sie heran und versuchte, Alicia I in den müden, traurigen Augen, den unbeholfenen Bewegungen, dem hinkenden Gang zu finden.
Er sagte ihr, wer er war, und ich fürchte, er machte ihr einen Antrag, den die in diesem Augenblick noch unerfahrene Martina selbst nach den Begriffen dieser Eskapisten-Zeit unsittlich fand. Als sie ihn abblitzen ließ, geriet er in Verzweiflung. Er flehte sie an, seine Gesellschaft nur für eine Weile zu erdulden, sei es für zehn Jahre oder für zehn Minuten, das spiele keine Rolle. Wieder lehnte sie ab. Er küßte sie trotzdem. Sie ohrfeigte ihn. Er ging.
Vielleicht eine häßliche Geschichte und dazu eine, die man klugerweise im Familienschrank unter Verschluß hält. Ich fragte mich, ob Alicias Vater, auf eigenen Wunsch in eine andere Welt verpflanzt, fortfuhr, diese alternde Fackel zu tragen. Und Martina – wo sind diese alten Stars heute?
4
An jenem Tag am Strand sprachen Alicias Vater und ich nur noch wenig miteinander. Wir sahen Alicia beim Spiel zu und ließen uns von ihr unserer Faulheit wegen aufziehen.
Um die langen Schweigepausen zwischen Claude Reynal und mir zu verkürzen, zwang ich ihn ständig zur Unterhaltung. Auf diese Weise holte ich dürftige, anekdotenhafte Informationen aus ihm heraus. Es schien ihn überhaupt nicht zu kümmern, was er mir erzählte. Doch es wäre ihm offenbar lieber gewesen, wenn ich so bald wie möglich verstummt wäre. Ich lernte eine Konversationstechnik, die bei ihm gut funktionierte: das knappe Anschneiden eines Themas ohne jede vernünftige Einleitung. Eines Tages hatte ich das Bedürfnis, über mich selbst zu sprechen, das verzweifelte Bedürfnis, denn die Unfähigkeit meines Körpers, etwas zu lernen, trieb mich in den Wahnsinn. Ich sagte zu ihm: »Sie erinnern mich überhaupt nicht an meinen Vater, kein
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