Alicia II
mich bei Besuchen in Bens früheren Praxisräumen gewöhnt hatte, lag vor uns ein auffallend sauberes und funktionelles Wartezimmer. Wenige moderne Möbel waren ringsherum geschmackvoll angeordnet, und auf Spiegeltischen lag Lesestoff ausgebreitet. (Zweifellos gehörten die Möbel zu der ursprünglichen Innenausstattung des Gebäudes.) Eine hübsche brünette Empfangsdame saß hinter einem Schreibtisch mit verspiegelten Seitenflächen. Das beeindruckte mich. Ben hatte noch nie eine Empfangsdame gehabt, weil er (wie er zu sagen pflegte) sich keine leisten konnte. Es mußte sich einiges verändert haben.
»Wen darf ich melden?«
Ich nannte ihr meinen und Stacys Namen, und ihre Augen leuchteten auf vor Freude. Es waren hübsche Augen von einem tiefen Braun.
»Dr. Blounte wartet seit Tagen auf Sie, er rechnete jede Minute mit Ihrem Eintreffen. Heute morgen sagte er noch, er habe es aufgegeben. Er wird außer sich sein vor Freude.«
»Wollen Sie uns anmelden, oder sollen wir gleich …«
»O nein. Wir können ihn jetzt nicht stören. Seine Tür hat ein Zeitschloß und kann erst geöffnet werden, wenn die Zeit um ist. Er ist beschäftigt. Er absorbiert.«
»Was tut er?«
»Entschuldigen Sie, das können Sie ja nicht wissen, wo Sie so lange von der Erde weg waren und so. Absorbieren – das ist eine neue Technik, mit der man Wissen erwirbt, ähnlich wie die alten Schlafmethoden. Der Lernende versetzt sich in einen meditativen Zustand, während er an einen Informationsspender angeschlossen ist. In dem meditativen Zustand ist er empfänglicher für das Wissen, und deshalb kann in kurzer Zeit sehr viel Stoff projiziert und absorbiert werden. Aber es ist ein komplizierter Vorgang. Der Lernende muß in der richtigen geistigen Verfassung sein, damit er anfangen kann, und es ist gefährlich, ihn mittendrin zu unterbrechen.«
»Gefährlich?«
»Es heißt, das Gehirn könne dabei Schaden erleiden. Ich weiß nicht, ob das stimmt, weil Absorbierer ihre Methoden sorgfältig geheimhalten.«
»Man muß einen enormen Wissensdurst haben, wenn man ihn unter diesen Bedingungen zu stillen bereit ist.«
»Nun, das trifft auf Dr. Blounte gewiß zu.«
»Sprechen wir von dem gleichen Ben Blounte? Nein, das war eine rhetorische Frage.«
Der Ben, an den ich mich erinnerte, hatte nie viel Wert auf Allgemeinbildung gelegt. Er hätte sich gekrümmt, wenn man ihn einen Intellektuellen genannt hätte. Trotzdem hatte er immer die notwendigen Informationen und Kommentare zur Hand. Also war er vielleicht auch früher schon ein Anhänger der Absorptionsmethode in ihren verschiedenen Formen gewesen.
»Dann warten wir«, sagte ich zu der Empfangsdame.
Wir warteten. »Wie ist Ihr Name?« fragte ich die junge Frau nach einiger Zeit. Sie sah mich an, als wolle ich ihren Namen in irgendeinem Bericht festhalten. Trotzdem antwortete sie mit pflichtbewußt klingender Stimme: »June. June Albright.«
»Hallo, June Albright. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Äh … danke. Oh, sehen Sie, das Licht für das Zeitschloß ist ausgegangen. Jetzt können Sie eintreten.«
Sie drückte einen Knopf, und eine Tür in der Wand glitt mit einigem Quietschen zur Seite. Stacy und ich gingen hindurch.
Der Raum dahinter war groß und seine Flächen in verschiedenen weichen Farben dekoriert. Beinahe hätte ich den Mann hinter dem Schreibtisch nicht gesehen. Es war ein junger Mann mit lockigem blondem Haar und einem offenen, lächelnden Gesicht. Seine Schultern waren massig, und er schien zu groß für den normalen Schreibtisch vor sich zu sein.
Einen Augenblick lang fragte ich mich, wo Ben sei. Der junge Mann sprintete um den Schreibtisch und streckte mir die Hand entgegen.
»Jesus Christus, Voss«, sagte er, »du siehst entsetzlich aus, als seist du vierzehn Jahre lang im Raum gewesen oder so etwas.«
Mich störte die Vertraulichkeit des jungen Mannes, doch dann ging mir ein Licht auf.
»Jesus Christus, Ben, du bist es!«
»Natürlich bin ich es.« Er ergriff meine Hand und schüttelte sie mit noch größerer Energie, als sie dem übliche Ben-Blounte-Händeschütteln früher innegewohnt hatte. »Ich sehe schon, du bist so schwer von Begriff wie immer. Du hast es vergessen. Du hast den lieben alten grauhaarigen Doktor erwartet, der sich über die Unterlagen seiner Patienten und seine rostigen Diagnose-Maschinen beugt. Gib es zu, du Dummkopf.«
Ich war in Verlegenheit. Ja, das war Ben. Ich erkannte die Redeweise, den Ton seiner Stimme. Aber obwohl Ben mich
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