Alicia II
immer in dieser wegwerfenden Weise behandelt und es mir nie etwas ausgemacht hatte, klangen seine Worte jetzt, wo er in diesem muskulösen jungen Körper steckte, in meinen Ohren unentschuldbar grob und geschmacklos. Bens Erneuerung konnte erst vor kurzem stattgefunden haben.
»Nun, ich war ein wenig betroffen«, heuchelte ich. »Ich hatte nicht gedacht, daß …«
»Du hattest nicht gedacht – wie üblich. Was meinst denn du, wozu du mich brauchst? Hallo, ich bin Ben Blounte.«
Letzteres war an Stacy gerichtet, der unverbindlich die ausgestreckte Hand ergriff und sagte: »Stacy.«
»Familienname oder …«
»Familienname.«
»Keinen anderen?«
»Keinen, den ich zugebe.«
»Okay, dann Stacy. Über was lächelst du, Voss?«
»Es ist nichts. Nur ist der Dialog, den ihr gerade geführt habt, beinahe ein genaues Duplikat der ersten Worte, die Stacy und ich seinerzeit austauschten.«
»Setzt euch, setzt euch, ihr beiden. Hast du daran gedacht, den Whisky mitzubringen, Kumpel?«
Zu Bens Entzücken zog ich eine Flasche Whisky hervor, die ich am Terminal gekauft hatte.
»Großartig! Ich habe zwei eigene Flaschen, aber das Zeug ist so verdammt teuer, daß ich lieber das von einem anderen trinke.«
Wir tranken mehrere Gläser und unterhielten uns. Meistens sprachen Ben und ich. Stacy sagte nur etwas, wenn er angesprochen wurde, wie es seine Art war. Ben richtete von Zeit zu Zeit das Wort an ihn. Einmal gestand er, Stacy habe ihm gleich gefallen, eine Bemerkung, die Stacy keine Reaktion entlocken konnte.
Ben war rund sechs Jahre nach unserm letzten Beisammensein gestorben. Vor anderthalb Jahren war er erneuert worden.
»Dann bist du beinahe sieben Jahre lang in der Periode der Dunkelheit gewesen«, sagte ich.
»Jawohl. Die Zeit wird immer länger und länger. Ich fühle mich besonders schuldig.«
»Schuldig?«
»Ich brauchte diesmal nicht zurückzukommen. Ich hätte mich voll Wonne zur ewigen Ruhe legen können. Nur aus müßiger Neugier habe ich den Antrag für die nächste Erneuerung gestellt.«
»Warum müßige Neugier?«
»Die Müßigkeit daran ist so verdammenswert. Es waren interessante Entwicklungen vorauszusehen. In der Medizin wurde an neuen Techniken gearbeitet. Auf politischem Gebiet begannen die Ausgemusterten, sich zu organisieren. Ich hatte auf meinem eigenen Spezialgebiet einiges erreicht. Gute Bücher wurden geschrieben. Frauen wurden in meinen Augen wieder interessant. An echten Whisky konnte man immer leichter kommen, je mehr Korn sich für seine Herstellung erübrigen ließ. Und ich hätte dich auch gern wiedergesehen. Ich hatte einen Haufen blöder Gründe dieser Art.«
»Mir kommen sie wie ganz normale Gründe vor.«
»Ja, dir. Ich weiß, ich bin nicht fair. Was ich zu sagen versuche, ist, daß die normalen Gründe, die regulären alltäglichen Zwänge, die uns in ein neues Leben treiben, nichts weiter sind als eine Beschönigung für müßige Neugier.«
»Ich kann dir nicht folgen, Ben.«
Er nahm einen langen theatralischen Schluck aus seinem Whiskyglas und fuhr fort: »Früher hatten wir nur die eine einzige Lebensspanne, um uns zu beweisen, um zu siegen oder zu versagen. Erleiden wir jetzt einen Mißerfolg oder haben wir uns der falschen Laufbahn gewidmet, sagen wir: Puh, was soll’s, das nächste Mal mache ich es besser. Wir können grausam sein, weil wir die Grausamkeit später, in all der Zeit, die uns zur Verfügung steht, wiedergutmachen können. Beziehungsweise uns vornehmen, sie wiedergutzumachen. Die Zeit hat ihre eigene Methode, uns von der Grausamkeit zu distanzieren und sie letzten Endes als entschuldbar hinzustellen. So machen wir weiter, wir entleeren das Leben seiner Bedeutung, weil wir denken, bei der nächsten Runde könnten wir ihm diese Bedeutung geben.«
»Verdammt, Ben, was erwartest du? Das ist die menschliche Natur, es ist …«
»Ja sicher, das ist die menschliche Natur. Die Entschuldigung, die für alles herhalten muß. Jesus, Voss, es liegt in der menschlichen Natur zu sterben. Wenn wir dies Gesetz brechen, müssen wir wenigstens etwas dafür bekommen, was es der Mühe wert macht. Wie es jetzt aussieht, haben wir jedes Ideal verraten, das einmal mit der Erneuerung verbunden war.«
»Was meinst du denn damit?«
»Jede Entwicklung trägt in sich ein Ideal, ob die Verantwortlichen es sich klarmachen oder nicht. Wissenschaftliche Erfindungen erweitern die Umgebung oder zumindest einen Teil davon. Meistens tragen sie dazu bei, den Menschen frei zu machen,
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