Alien 1: Vierhundert Milliarden Sterne
sofort die
Ranken an der nächsten Mauer hochzusteigen.
»Sind Sie in Ordnung?«
»Etwas schwindlig. Ist ziemlich tief – unter
mir.«
Dabei hatte sie den verrückten Gedanken, eine solche
Perspektive schon einmal erlebt zu haben.
»Wissen Sie ungefähr, wo Sie sind? Ich werde die
Funkstille brechen. In einer Minute hat dann Ramaro eine Sonde bei
Ihnen.«
»Nein…« Sie keuchte, als sich der Hüter
seitwärts schwang und an einer anderen Ranke weiterkletterte.
Tief unten war die Rampe zu einem schmalen Band auf der schwarzen
vertikalen Klippe geschrumpft. Die anderen Türme wirkten von
hier oben wie Bleistifte mit angespitzten Enden. Das schwache
Phosphoreszieren der Schlamminseln konnte sie gerade noch
erkennen.
»Ich weiß nicht genau, wo wir sind. Ich habe das
Gefühl, wir klettern ganz nach oben.«
»Können Sie sondieren, was das Biest vorhat?« Das
war Sutters Stimme.
»Ich kann mich nicht konzentrieren.« Ihr TALENT war von
dem plötzlichen Gefühlsansturm, ausgelöst durch das
noch nicht zugeordnete neue Wissen der jungen Männlichen, mit
denen sie gedanklichen Kontakt aufgenommen hatte, völlig
durcheinander. Trotzdem spürte Dorthy, daß im
Bewußtsein ihres Häschers eine Stelle heller leuchtete
– als ob er von etwas anderem angetrieben würde.
»Ich könnte den Chopper ziemlich nah heranfliegen. Wenn
es mir gelingt, über Ihnen in Position zu gehen, gibt es
vielleicht eine Möglichkeit…«, überlegte Sutter
laut.
»Nein, ich glaube nicht, daß der Hüter mir etwas
antun will. Selbst wenn Sie mit dem Chopper nahe genug
herankämen – er bräuchte mich nur
loszulassen…«
Dorthy hatte die Augen geschlossen, denn der Abgrund machte sie
schwindlig. Als sie fühlte, daß der neue Männliche
sich über eine Kante schwang, öffnete sie sie wieder. Sie
befanden sich jetzt auf dem nächst höheren Abschnitt der
Rampe, die sich spiralförmig vom Fuß bis zur Spitze des
höchsten Turms im Zentrum der Burg wand. Dorthys Kidnapper
hockte sich auf die Hinterbeine, hielt aber Dorthy mit sanftem Druck
in ihrer Lage fest. Wenige Sekunden später wurde sie durch die
Luft gehoben und auf den gummiweichen Rampenboden gelegt.
»Irgendwie schaffe ich es zu Ihnen«, hörte sie
Andrews’ Stimme an ihrem Ohr. »Halten Sie diesen Kanal so
lange wie möglich offen. Ich werde der Radiowelle
folgen.«
Dorthy antwortete nicht, sondern betrachtete nervös das
schmale Gesicht des Männlichen vor ihr. Die großen Augen
glitzerten dunkel im Schatten der Haube, während der Hüter
eingehend ihren Körper von oben bis unten musterte. Nach einer
Weile schob er den Chamäleon-Umhang beiseite und bewegte
vorsichtig erst ihren linken, dann den rechten Arm. Dorthy hielt die
Muskeln entspannt, während der Hüter ihre Gelenke
untersuchte. Besonders interessierten ihn die Rundumbewegung ihrer
Handgelenke. Leise schnaufend betastete er ihre Beine, beugte die
Knie, bewegte die Fußgelenke, wobei er die Beweglichkeit jedes
einzelnen Gelenks eingehend untersuchte. Er hantierte an den
Schnallen ihrer Stiefel herum, kam wieder nach oben und drückte
so fest auf ihren Bauch, daß sie leise aufschrie. Andrews und
Sutter fragten wie aus einem Mund: »Was ist los?« Im selben
Moment ließ der Hüter von ihr ab.
Ohne die Lippen zu bewegen, antwortete Dorthy: »Es ist alles
okay. Macht euch keine Sorgen.«
»Sie sind verdammt weit oben«, vernahm sie wieder
Andrews’ Stimme. »Hören Sie – ich steige hier
eine Art Leiter hinauf, die aber in die falsche Richtung zu
führen scheint. Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie sich von
dort wegbewegen.«
»Wo, zum Teufel, ist die Sonde?« Das war wieder
Sutter.
Dorthy mußte zulassen, daß der Hüter den
Gürtel ihres Overalls öffnete und nacheinander das Messer
und die anderen Werkzeuge daran untersuchte. Er löste sie nicht
vom Gürtel, sondern hob sie nur an, um sie eingehend zu
betrachten, und ließ sie dann wieder fallen. Dorthys déjà-vu- Gefühl war jetzt sehr stark. Dann
hatte sie es: Eine alte, zweidimensionale
Schwarzweiß-Trivia-Show war es, die sie einmal gesehen hatte.
Einer der Studenten am Fra Mauro hatte eine ganze Sammlung dieser
Produktionen aus der Zeit vor dem Zeitalter der Verschwendung und des
Überflusses besessen. King Kong – das war der Titel
gewesen. Dorthy unterdrückte das Lachen, als das spitze Gesicht
des Hüters dicht über ihrem eigenen auftauchte. Sein
süßlicher Atem, durchmischt mit einem Hauch von Aceton,
war übelkeitserregend. Die großen Augen
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