Alien Earth - Phase 2
auf der Erde stammen können. Hatte man eine gelesen, so kam es Wilbur vor, der viele Tausende geschrieben und Hunderte gelesen hatte, hatte man alle gelesen. Aber das war egal. Wichtig war nur, dass sie ihm einen plausiblen Anlass gaben, Rodrigo aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.
Als Wilbur die letzte Karte vorgelesen hatte, fragte er: »Und, ist eine von deiner Ana?«
Ana war Rodrigos kleine Schwester. Sie war im letzten Sommer verschwunden - und Rodrigo glaubte, dass sie nach Westen gegangen war, zum Itaipú-Staudamm, von dem aus 150.000 Seelen nach Sigma V aufgebrochen waren.
»Vielleicht die eine mit dem großen Fisch …?«
Wilbur suchte die Karte aus dem Stapel. Sie zeigte einen
Fischer, der am Strand stolz seine Beute präsentierte. Der Himmel leuchtete giftgrün, der Fischer erinnerte an einen Skorpion, und der Fisch besaß statt einer Heckflosse eine Schraube.
»Die hier?«
Rodrigo hatte nie viel von seiner Familie erzählt. Er hatte ein Dutzend Geschwister und Dutzende nähere Verwandte, und alle zusammen waren sie arme Bauern, denen die Dürre im Amazonasbecken den Boden unter den Füßen wegzog. Sie hatten in der Hoffnung auf den großen Gewinn für Company-Lose zusammengelegt, und ihr Plan war aufgegangen: Rodrigo hatte das große Los gezogen, einen Platz als Flyboy. Aber statt das Los zu versteigern und seine Familie aus der Armut zu erlösen, war er Flyboy geworden. Rodrigo liebte die Gemeinschaft, und die Chance, als Lauscher für die Company in der globalen Kommunikationsgemeinschaft einzutauchen, war zu verlockend gewesen, als dass er ihr hätte widerstehen können. Zum Ausgleich hatte er jeden Cent, den er nicht zum Leben brauchte - und Rodrigo war bescheiden -, nach Hause überwiesen, aber seine Familie hatte es ihm nie verziehen. Was immer Rodrigo gab, es war nur ein Bruchteil dessen, was sie für das Los hätte bekommen können.
»Ja, die.« Rodrigo versuchte zu nicken, aber die Rückenplatte verhinderte es.
Am Morgen, an dem ihm die Aliens die Rückenplatte eingesetzt hatten, war Rodrigo zu Wilbur in die Bitch gekommen. Er hatte ihm von seiner Lieblingsschwester Ana erzählt, Wilbur gebeten, ihm dabei zu helfen, sie zu finden. Wilbur hatte es ihm versprochen, ohne zu ahnen, wie diese Hilfe aussehen könnte. Erst später war ihm der Gedanke gekommen, dass Ana eine Erfindung Rodrigos sein könnte.
Wilbur las die Karte ein zweites Mal vor: »He, Petit! Der Fisch ist großartig hier, man muss die Harpune nur ins Meer stecken! Deine Ana. PS: Auf dem Foto ist Mercer, mein neuer … na, du weißt schon!«
»Petit war mein Spitzname«, erklärte Rodrigo.
»Wieso ist die Karte dann nur ›vielleicht‹ von ihr?«
»Petit ist beliebt. Halb Brasilien wird so genannt.«
»Ah ja.«
Und die andere Hälfte, hatte Wilbur recherchiert, hieß Ana. Ana war ein Allerweltsname. Deshalb hatte er für jeden Besuch ausreichend Karten, deshalb hatten sie einen unverfänglichen Grund für ihre Gespräche. Die Seelen einiger hundert Anas mussten nach Sigma V gereist sein.
»Ana ist nicht mehr auf der Erde«, sagte Rodrigo. »Ich spüre es, Wilbur. Spürst du es nicht auch?«
»Ja … ja doch …«, antwortete Wilbur, obwohl er nichts in der Richtung spürte. Was wusste er von Ana? Es gab keine Verbindung zwischen ihm und ihr, selbst wenn es Ana tatsächlich geben sollte. Aber es gab eine Verbindung zwischen ihm und Rodrigo. Sie war über drei Sommer gewachsen, auf den langen Patrouillen über dem Pazifik, zusammengepfercht in der Bitch, darauf angewiesen, einander wortlos zu verstehen, um die alte Dame wieder heil nach Funafuti zu bringen. Es war diese Verbindung, auf die ihn Rodrigo ansprach - und es war diese Verbindung, die ihre Chance war.
Pasong hatte Rodrigo das Tor zu einer Welt eröffnet, nach der er sich verzehrte. Um ihm das Glück zu schenken, wie der Alien sagte. Aber eröffnete sich Pasong mit dem Tor nicht seinerseits Zutritt zu einer anderen Welt, zu Rodrigo? Sie wussten es nicht, aber sie mussten davon ausgehen, dass Pasong in Rodrigos Inneres blickte, jeden seiner Gedanken las. Nur: Lesen hieß nicht zwangsläufig verstehen.
»Sie ist weg … ja …«, sagte Wilbur. »Ich spüre es.« Und dann machte Wilbur seinen Vorstoß, auf eine Weise, die die Aliens nicht verstehen würden. Er fragte Rodrigo: »Ist Ana tot?«
»Nein!«, rief Rodrigo, aber dem Ausruf des Lauschers fehlte die letzte Spitze des Entsetzens, und Wilbur verstand, was er ihm mitteilen wollte: Ihr Plan lebte.
»Aber
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