Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Ohren fiel Alissa in einen erholsamen, friedlichen Schlaf.
– 39 –
W eiß , dachte sie. Alles ist weiß. Alissa blinzelte in die Vormittagssonne, hob den Kopf und blickte sich um. Euthymienblüten glitten mit weichem Flüstern von ihrem Kopf und häuften sich um ihre überkreuzten Arme an. Ihr köstlicher Duft drang ihr in die Nase, und sie atmete tief ein und genoss die kühle Luft.
Herabgefallene Blüten hatten über Nacht alles mit einer weichen, duftenden Schicht bedeckt, und dennoch wirkten die Zweige über ihr noch immer voll, als fehlte kaum etwas von ihrer Pracht. Ihre verletzte Hand war fachmännisch mit einem Streifen schwarzer Seide verbunden worden. Er sah aus wie eine von Nutzlos’ Schärpen. Der Verband saß so fest, dass sie die Hand kaum bewegen konnte. Sie tat überhaupt nicht mehr weh, und in ihrem Schwanz spürte sie nur noch ein dumpfes Pochen. Alissa lächelte. Nutzlos musste sie geheilt haben, während sie geschlafen hatte.
Das Lager war verlassen, die Decken säuberlich auf Nutzlos’ Kissen gestapelt. Sogar Kralle war fort. Wo die Schicht aus Blütenblättern jüngst zerstört worden war, lugte das frische Grün von jungem Moos hervor, doch diese Flecken verschwanden rasch, denn die Blütenblätter regneten weiterhin in einem gemächlichen Schauer herab. Der Anblick war atemberaubend.
Sie blickte sich um und sah Nutzlos in seiner Raku-Gestalt am Rand des Hains in der aufgehenden Sonne sitzen. Auch er war mit einer dicken weißen Schicht bedeckt – er musste die halbe Nacht lang reglos dort verharrt haben, damit sich eine so dicke Decke angesammelt haben konnte. Alissa räkelte sich, so dass die letzten Blüten von ihr abfielen. »Guten Morgen, Nutzlos« , begrüßte sie ihn mit sanften Gedanken. »Danke, dass Ihr meine Hand und meinen Schwanz geheilt habt.«
Mit einem leisen Grollen drehte Nutzlos sich um, und seine weiße Decke regnete von ihm herab und enthüllte seine wahre Farbe. Seine Kratzer waren ebenfalls verschwunden, und er sah ganz so aus wie immer. »Guten Morgen, Alissa« , sagte er lautlos. »Danke mir noch nicht für deine Hand. Sie ist gebrochen. Ich habe ledi g lich den Schmerz betäubt. Und dein Schwanz war nur geprellt.«
»Gebrochen?« Sie erstarrte und traute sich kaum, sich zu rühren. »Ich dachte, Ihr hättet wieder diesen Heilungsbann benutzt.«
Er spürte ihre Sorge und sandte ihr einen beruhigenden Gedanken. »Deine Hand wird ohne bleibende Beeinträchtigung verheilen. Ich habe die Knochen gestern Nacht gerichtet, während du geschlafen hast. Du spürst nur deshalb keinen Schmerz, weil ich ihn betäubt habe. Es wäre zu gefährlich, einen zweiten Heilungsbann anzuwenden, bevor dein Körper genug Zeit hatte, seine Reserven wieder aufzufüllen. Mindestens drei Tage. Alles hat eben seine Grenzen.«
»Oh« , dachte Alissa. »Deshalb habt Ihr Eure Kratzer gestern nicht gleich geheilt. Ihr wolltet warten, bis …« Sie verstummte, weil sie seinen Namen nicht einmal stumm aussprechen wollte.
Nutzlos blinzelte langsam. »Ja«, sagte er gedehnt. »Ich habe gewartet, bis die Sache mit Bailic beendet war.« Unbekümmert wandte er seine Aufmerksamkeit dem Himmel zu. »Wie ist dein Befinden heute Morgen?«, fragte er und schaffte es irgendwie, trotz der Blüte, die nun verwegen über seinem linken Brauenbogen klebte, königlich zu wirken.
Alissa streckte die Schwingen, ließ sie einmal kraftvoll durch die Luft sausen und sprang mit einem Satz zu ihm hinüber. Blütenblätter wirbelten auf, und alles verschwand in einer wahren Explosion aus Weiß. Sie landete leichtfüßig und lächelte voller Freude über die wirbelnden, tanzenden, duftenden Blüten – ein einmaliger Anblick. »Ich habe Hunger« , sagte sie fröhlich in Gedanken und genoss das neuartige Gefühl von weichen Blütenblättern, die auf ihren Rücken fielen. Sie drückte die verletzte Hand fest an sich. Sie fühlte sich gar nicht gebrochen an.
»Ja …« , sagte Nutzlos gedehnt, während sich ihr selbst gemachter Schneesturm legte. »Was wirst du denn essen? «
Alissa sah ihn hoffnungsvoll an. »Fisch?«
Zweifelnd kniff er die Augen zusammen. »Ich weiß, wo du ein wildes Schaf findest, oder auch einen –«
»Fisch« , bekräftigte sie und unterdrückte ein Schaudern.
»Fisch.« Nutzlos zog angewidert den Kopf zurück. »Ich nehme doch an, dass du einen fangen kannst?«
»Das muss ich wohl. Ich bin nicht mehr dazu gescha f fen, Pfannkuchen zu essen.« Doch seine wenig enthusiastische
Weitere Kostenlose Bücher