Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. »Wer soll es tun?«, fragte sie höhnisch. »Das Gesetz besagt, dass ich meine Bewusstheit verlieren muss. Wirst du sie mir nehmen, Yar-Taw? Beso-Ran? Neugwin?« Der stolze Ausdruck kehrte auf ihr Gesicht zurück, als ihr Blick über Yar-Taws Schulter hinweg auf die anderen Meister fiel.
Yar-Taw erstarrte. Sie hatte recht. Es gab nun so wenige von ihnen, dass selbst ihr Verbrechen ungesühnt bleiben könnte, weil die Strafe sie alle dem Aussterben einen Schritt näher bringen würde.
»Nein«, sagte sie mit beißender Stimme. »Keiner von euch wird es tun, weil ihr wisst, dass ich im Recht bin. Ich habe euch gerettet, und ihr seid zu feige, es zuzugeben. Sie war eine Abscheulichkeit. Eine Lästerung. Eine widerliche Karikatur dessen, was ein Meister ist.«
Strell schnappte nach Luft, und Yar-Taw keuchte vor Zorn. »Verlass uns, Keribdis«, sagte Yar-Taw. »Geh, und kehre niemals auf diese Insel zurück.«
Keribdis lachte. »Du weißt, dass ich im Recht bin, denn sonst würdest du mir auf der Stelle die Bewusstheit nehmen.«
»Das nennt man Gnade, Keribdis. Geh.«
»Es ist Feigheit!«, behauptete sie. »Und du kannst mich nicht zwingen zu gehen. Keiner von euch. Nicht einmal ihr alle zusammen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich weiterhin bei so undankbaren, kurzsichtigen Narren bleibe.« Sie wandte ihnen den Rücken zu und ging von dannen, sicher, dass ihr niemand etwas tun würde. Yar-Taws Lippen verzerrten sich, denn er wusste, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt war.
Sobald sie den Sonnenschein erreichte, warf sie ihnen einen verächtlichen Blick voller Abscheu zu. Ihr Haar schimmerte, und sie löste die Bänder daraus, als befreie sie sich von einer unerwünschten Last. »Kehrt mit eingezogenen Schwänzen zu Talo-Toecan zurück«, sagte sie bitter, als das letzte Band aus ihrer Hand flatterte. »Und wenn er euch Narren schilt, kommt hierher, und ich werde eure Entschuldigung annehmen.«
Yar-Taw wirbelte herum, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Es war Strell.
Lodesh holte ihn ein. »Halt dich da raus!«, schrie der Bewahrer, stürzte vor und brachte Strell zwei Manneslängen vor Keribdis zu Fall.
Strell erhob sich mit furchtbarer Entschlossenheit. Lodesh zerrte an seinem Arm und schleuderte ihn zurück, auf die Menge der Meister zu. Keribdis beobachtete die Szene ungerührt und furchtlos. Lodesh betupfte mit dem Ärmel seine Lippe. »Ich werde nicht vor Alissa stehen und versuchen, ihr zu erklären, weshalb ich lebe und du tot bist!«, schrie er den erzürnten Tiefländer an. »Bleib, wo du hingehörst. Du kannst nichts tun!«
Frustration und Zorn, rasch gefolgt von Hoffnungslosigkeit und Trauer, malten sich auf Strells Gesicht. Er schüttelte die stützenden Hände ab und baute sich schützend vor Alissa auf. Er hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass seine Muskeln an Schultern und Armen wie Taue hervorstanden. »Sie lassen sie einfach davonkommen«, sagte er verbittert, und Yar-Taw fühlte sich schuldig. »Dieses – Tier – hat Alissa wehgetan. Alissa stirbt, und deine kostbaren Meister lassen sie einfach gehen. Sie musste nicht einmal eingestehen, dass sie etwas Böses getan hat!«
Keribdis schnaubte hochmütig und verwandelte sich. Golden schimmernd in der Mittagssonne, erhob sie sich in die Luft. Die Kraft ihrer Schwingen ließ trockenen Sand aufwirbeln. Als Yar-Taw den schützend erhobenen Arm wieder sinken ließ, war sie fort. Ihm war schlecht. Sie hatte recht gehabt. Sie alle waren Feiglinge: Feiglinge, weil sie das Urteil nicht vollstreckt hatten, Feiglinge, weil sie sich so lange von Keribdis hatten vorschreiben lassen, was sie denken sollten, Feiglinge, weil sie sie nicht daran gehindert hatten – dies hier zu tun.
Elend wandte er sich dem zu, was Keribdis’ Eifersucht angerichtet hatte.
– 34 –
H elft mir«, sagte Strell. Sein Gesicht war so von Trauer verzerrt, dass Yar-Taw sich innerlich wand. »Helft mir, sie irgendwohin zu tragen«, beharrte Strell.
»Strell«, sagte Yar-Taw. »Es tut mir leid. Ein Meister kann ohne eine Quelle nicht leben.«
Strell hockte sich hin und zog Alissa in eine sitzende Position, um sie besser halten zu können. »Sie ist noch nicht tot«, fauchte er. »In die Hölle des Navigators sollt ihr alle verdammt sein.«
»Pfeifer …«, sagte Lodesh warnend und warf Yar-Taw einen unruhigen Blick zu.
»Halt den Mund, Lodesh«, erwiderte der Tiefländer und
Weitere Kostenlose Bücher