Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
erlosch, alle Kraft war aufgebraucht.
Alissa sackte in den Sand. Es war getan. Sie brauchte nichts mehr zu tun.
Das Schimmern auf ihren Pfaden erlosch.
– 33 –
H inter Yar-Taw schrien andere vor Überraschung und Schmerz, als Alissas geistiger Schrei durch seine Gedanken raste. Er umklammerte den Kopf mit beiden Händen, wandte sich zur Seite und fing sich am Tisch ab. Er rang nach Luft, und dann war das unhörbare Kreischen verstummt. »Bei den Wölfen«, keuchte er.
Das grelle Licht des Nachmittags stach ihm in die Augen und ließ dahinter ein schmerzhaftes Pochen entstehen, das im Rhythmus seines Herzschlags pulsierte. »Was, zur Asche, war das?« Er schluckte gegen den letzten Rest Schwindel an und hob den Kopf. Allmählich wurde das Licht erträglich. Er kniff die Augen zusammen und sah Keribdis in der Mitte ihrer improvisierten Bühne stehen. Sie starrte entsetzt auf ihre leere Handfläche. Es drehte ihm den Magen um. Keribdis hatte Alissa die Quelle entrissen, bei lebendigem Leibe, während das Mädchen hatte zusehen müssen.
Dann erstarrte Yar-Taw in ehrfürchtigem Begreifen. Der geistige Schrei. Alissa hatte ihre Quelle aufgebraucht, ehe Keribdis sie für sich beanspruchen konnte. Die Kleine hatte ihre gesamte Quelle in einer letzten, trotzigen Geste verbraucht. »Nutzlos«, hatte Alissa geschrien. Offensichtlich eine letzte, rebellische Demonstration.
Mit pochendem Herzen fuhr er zu Alissa herum. Hilflosigkeit schnürte ihm die Brust zu, als er sie zusammengekrümmt in den Armen des Tiefländers entdeckte. Die beiden lagen im Sand. Alissa musste tot sein. Kein Meister konnte ohne eine Quelle leben. Strell wiegte sie verzweifelt in den Armen und murmelte vor sich hin. Wie war der Mann so schnell zu ihr gelangt?, fragte sich Yar-Taw. Alle anderen waren noch damit beschäftigt, sich aufzurappeln. Dann fiel Yar-Taw wieder ein, dass Strell ein Gemeiner war und ihren geistigen Schrei nicht gehört haben konnte.
Dicht hinter den beiden stand Lodesh. Sein Haar war zerzaust, und sein Gesicht zeigte einen unwirklichen Ausdruck von Trauer und hilfloser Wut. Seine Lippe blutete. Yar-Taw sah zu Strell hinab und fragte sich, was in den wenigen Augenblicken geschehen sein mochte, während er beinahe das Bewusstsein verloren hatte.
Es zupfte mehrmals an seinem Geist, und Resonanzen leuchteten auf seinen Pfaden auf, als mehrere Heilungsbanne gewirkt wurden. Er beschloss, lieber mit dem Schaden an seinen Pfaden zu leben, bis er von selbst verheilt war. Er könnte den Bann später dringender brauchen.
»Bleib bei mir, Alissa«, flüsterte Strell, und Yar-Taw fuhr zusammen. Sie lebte noch?
Starr vor gerechtem Zorn wandte er sich Keribdis zu. Sie stand stocksteif und fassungslos da. »Was …?«, stammelte sie und starrte auf ihre leere Hand hinab. »Was ist damit geschehen?«
»Sie hat sie benutzt, ehe du es tun konntest«, sagte er und war überrascht, wie rau seine Stimme klang. »Verflucht sollst du sein, Keribdis.« Zum ersten Mal in seinem Leben sah Yar-Taw Keribdis um Verständnis ringen.
»Aber … ich wollte sie ihr zurückgeben«, sagte sie wie betäubt.
»Wann?« Er straffte die Schultern, aber langsam, denn ihm war, als spürte er die Last von zwei Jahrhunderten der Dummheit darauf. Er hatte zu lange gewartet, und nun war es zu spät. »Nachdem sie bettelnd vor dir im Staub gekrochen wäre?« Er warf einen Blick auf Alissa, und sein Atem ging rascher. »Nachdem du auf ihr herumgetrampelt wärst, bis sie sich dir ergeben hätte? Nachdem du sie gebrochen hättest, wie den Rest von uns? Du hast ihr die Quelle aus der Seele gerissen!«
Keribdis schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken klären. »Ich habe sie Demut gelehrt.«
Yar-Taw lachte. Es klang bitter und freudlos. »Du hast sie gelehrt, wie machtvoll eine Selbstaufopferung ist. Du hast sie gelehrt, dass du rachsüchtig und grausam bist, getrieben von Neid und Eifersucht. Und wir haben dasselbe gelernt wie sie.«
Keribdis versteifte sich und verfiel vor Schreck in ihr übliches Selbst. »Ich habe euch allen gerade das Leben gerettet.«
»Du hast uns getötet«, erwiderte er trügerisch ruhig und trat einen Schritt näher. »Alissa war die Transformantin der Feste. Sie war unsere Zukunft.«
»Silla ist unsere Zukunft.« Hochmütig zupfte Keribdis ihre Schärpe zurecht, und ihr Gesicht verzerrte sich vor wilder Genugtuung, als sie auf Alissa in den Armen des Tiefländers hinunterblickte. »Das« – sie zeigte mit dem Finger
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