Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
japsend auf dem Boden und fragte sich, warum sie noch nicht gestorben war. Ihre Seele lag zerrissen und zerfetzt in ihrem Inneren. Der helle Schein von Allem war fort und hinterließ ausgefranste Kanten, wo der Tod sie von innen heraus aufzufressen begann. Ihre Augen schlossen sich. Es war vorbei. Sie konnte nichts mehr tun.
»Sie ist unbeherrschbar!«, rief Keribdis wild. »Sie darf keine Quelle haben! Talo-Toecan irrt sich! Ich werde es so machen, wie es hätte getan werden müssen! Sie gehört mir!«
Ein wütendes Kreischen erscholl über ihren Köpfen. Alissa hob den Kopf zum Himmel. »Kralle! Nein!«, rief sie und hob warnend die gesunde Hand. Doch ihr Vogel stürzte sich mit gespreizten Klauen herab.
Keribdis’ Gesicht nahm einen hässlichen Ausdruck an. Alissa sah eine Resonanz auf ihren Pfaden aufblitzen. Kralles Kreischen brach erschreckend plötzlich ab.
Alissa hatte das Gefühl, selbst zu sterben, als Kralle in den Sand fiel. Sie wollte nicht begreifen, was geschehen war, streckte die Hand aus, streichelte einen zerzausten Flügel und folgte der vertrauten Musterung mit den Fingern. »Kralle …«, flüsterte sie, und alles verschwamm vor ihren Augen, als sie erkannte, dass der Vogel tot war. »Kralle?«
Die Meister standen hinter Alissa, zu entsetzt, um sich zu rühren. Alissa spürte, wie ihre Lunge in sich zusammenfiel, als sie den Willen verlor, sie mit Luft zu füllen. Schemen erschienen vor ihren Augen. Keribdis’ Schuhe. Alissa blinzelte ihre Tränen fort, blickte auf und sah Keribdis’ barsches Gesicht vor dem blauen Himmel.
»Deine Quelle gehört mir«, sagte Keribdis, und die Bitterkeit in ihrer Stimme ließ ihre Worte seltsam klingen; sie erinnerten Alissa an die schwarzen Flecken der Möwen, die sich über ihr vom Himmel abhoben.
Keribdis ist das gleichgültig, dachte Alissa. Sie hatte Kralle getötet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, und es bereits vergessen. Die schiere Verzweiflung zwang Alissa, Luft zu holen. »Nein«, sagte sie, doch das war eine vergebliche Geste. Die Frau hatte die Regeln geändert und gewonnen.
Alissas Quelle ruhte in Keribdis’ Hand wie eine Karotte, mit der sie von einem Esel Gehorsam verlangte. Und Alissa wusste in ihrer tiefsten Seele, dass sie sie nehmen würde, wenn Keribdis sie ihr anbot. Nur der Schock über Kralles Tod verhinderte, dass sie schon jetzt bettelte, im Staub kroch und alles versprach, um ihre Quelle zurückzubekommen. Sie würde sich einverstanden erklären, für immer von Keribdis beherrscht zu werden, noch während ihr getöteter Vogel zu Keribdis’ Füßen lag. Ihre verwundete Seele schrie danach, diesen warmen Schein von Kraft und Trost wieder in sich zu spüren.
Und Keribdis wusste das. Sie ragte vor Alissa auf, und ihre ganze Haltung drückte grausame Befriedigung aus.
Alissa schloss die Augen. Sie hielt den Atem an, um nicht laut zu schluchzen, und konzentrierte sich auf die Erinnerung an Kralle, um die Kraft für das zu finden, was sie nun tun würde.
Sie würde nicht Keribdis gehören, oder sonst irgendjemandem. Sie besaß nicht genug Kraft, um sich ihre Quelle zu erkämpfen, doch sie war nah genug, um sie zu benutzen. Noch … nah genug, um sie zu benutzen.
Alissa sank zusammen, bis sie den warmen Sand an ihrer Stirn spürte. Nur wenn ihre Quelle weg war, würde sie nicht darum betteln. Sie aufzubrauchen, könnte ihren Tod bedeuten, doch sie würde eher sterben, als dieser Frau zu gehören.
Alissa fand Frieden im Verlust der letzten Hoffnung und zwang sich, sich tief in ihr Unterbewusstsein sinken zu lassen. Sie konnte spüren, wie ein kleiner Teil von ihr sich weinend vor Schmerz über Kralle beugte. Nichts war mehr wichtig. Sie richtete sich auf, hob den Blick blindlings zur Sonne und lenkte alle ihre Gedanken auf eine Festung in den Bergen – kalt in der Nacht, friedvoll in der Stille – und auf einen alten Raku, der auf dem Dach saß, wartete und lauschte, in dem Augenblick, da die Nacht kurz die Zeit anhält, ehe sie zum Tag wird.
»Nutzlos!«, schrie sie und zog, sog und leitete jedes Quäntchen Kraft aus ihrer Quelle in Keribdis’ Hand durch ihren Geist.
Eine blendende Kraftwelle breitete sich als konzentrischer Energiestoß um sie aus. Die Meister gingen zu Boden, die Hände auf die Ohren gepresst. Den Blick in den Himmel und alle Gedanken auf Kralle gerichtet, spürte Alissa, wie die reine, klare Energie ihrer Quelle ein letztes Mal durch ihren Geist strömte. Das Licht in Keribdis’ Hand
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