Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
unter seiner Haut. Schweiß rann ihm über das glatt rasierte Gesicht und floss in der kleinen Spalte an seinem Kinn zu Tröpfchen zusammen. Das schulterlange, wellige Haar hatte er zurückgebunden, und es wirkte noch dunkler als sonst, weil es schweißnass war.
Sie ließ den Blick über seinen schlaksigen Körper schweifen, während er arbeitete, und ihr wurde wärmer. Strell hatte einen großen Teil seines Lebens als fahrender Spielmann verbracht, und seine seltenen, weisen und weltgewandten Bemerkungen zogen sie ebenso sehr zu ihm hin wie seine exotische Tiefländer-Erscheinung. Sie waren sich zufällig begegnet: sie auf dem Weg zur Feste, er auf der Flucht vor dem eigenen Schmerz, nachdem er erfahren hatte, dass seine gesamte Familie bei einer plötzlichen Frühjahrsflut ums Leben gekommen war. Dass sie sich ineinander verliebt hatten, während sie unter Bailics Herrschaft auf der Feste ums Überleben gekämpft hatten, war für sie beide ein Schock gewesen. Nutzlos drückte seine Missbilligung darüber sehr offen aus, doch Strell und Alissa war das gleich. Sie hatten nicht den Hass zweier Kulturen überwunden, um sich von einer dritten aufhalten zu lassen. Vor allem, wenn das eine Kultur war, die ihnen beiden nichts bedeutete.
Neben Strell wirkte Lodesh wie eine Studie in Gegensätzen. In der traditionellen Kleidung der Bewahrer strahlte er eine Kultiviertheit aus, die lockere Eleganz und völliges Selbstvertrauen verriet. Seine grünen Augen glitzerten oft schalkhaft, was so gar nicht zu seiner ehemaligen Verantwortung als Stadtvogt von Ese’ Nawoer passen wollte. Er bewegte sich zwischen Strells Axthieben mit tänzerischer Anmut vor und zurück. Ein robuster und doch eleganter Mantel schützte ihn vor der morgendlichen Kälte, und auf seinen kurzen blonden Locken saß ein Hut. Auch er war stets glatt rasiert, seit Alissa letzten Winter bemerkt hatte, der Bart, den er damals trug, ließe ihn alt aussehen. Er war der letzte Geist von Ese’ Nawoer, ins Leben zurückgekehrt, um sich und die Stadt von dem Fluch zu erlösen.
Als Vogt der einst von vielen Menschen bewohnten Stadt hatte er sich vor langer Zeit geweigert, den Flüchtlingen vor der Seuche des Wahnsinns Zuflucht zu gewähren. Er hatte sich gegenüber den Schreien der Menschen, die um Hilfe oder zumindest einen schnellen, würdigen Tod flehten, taub gestellt und gemeinsam mit den Bewohnern seiner Stadt voller Grauen mit ansehen müssen, wie die Frauen und Kinder vor dem Stadttor übereinander herfielen. Für dieses abscheuliche Verbrechen hatte ein ehemaliger Freund Lodesh und seine Stadt dazu verflucht, auf ewig dienstbar sein zu müssen, bis sie ihre Schuld gesühnt hatten. Die Bevölkerung der Stadt hatte inzwischen ihren Frieden gefunden, doch als derjenige, der entschieden hatte, das Tor nicht zu öffnen, war Lodesh zurückgeblieben.
Leise Reue mit einem Anflug von Schuldgefühlen überkam sie. Es war über ein Jahr her, seit Lodesh – getrieben von einer Liebe, wie sie sie noch nicht erlebt hatte – sie betrogen hatte. Er hatte zugelassen, dass sie um 350 Jahre in der Zeit zurückversetzt wurde, auf eine Feste, die blühend und voller Leben war. Sie traf ihn dort erneut als unschuldigen jungen Mann, kurz bevor er Stadtvogt geworden und seinem unentrinnbaren Schicksal entgegengeschlittert war. Sie hatte geglaubt, die Rückkehr zu Strell sei unmöglich, und sich von seinem glühenden Begehren und ihrem Wunsch, ihm sein trauriges Schicksal zu ersparen, einwickeln lassen. Doch sie hatte den Weg zurück zu Strell gefunden und damit ihre Beziehung zu den beiden Männern sehr verkompliziert. Sie konnte sich nicht überwinden, Lodesh für das zu hassen, was sie seinetwegen hatte durchmachen müssen, doch sie konnte ihm auch nicht vollends vertrauen.
»Du irrst dich«, sagte Strell zwischen zwei Axthieben zu Lodesh. Er sprach mit einem harten Tiefland-Akzent, wie er es immer tat, wenn er erregt war. »Sie hat mich zuerst geliebt.« Die Axt fuhr mit einem dumpfen Geräusch tief ins Holz und spaltete es mit einem Hieb. »Das bedeutet mehr, als du zugeben willst.«
»Dich zuerst geliebt?«, entgegnete Lodesh, dessen präzise Aussprache Strells Akzent umso exotischer wirken ließ. »Das kommt auf den Standpunkt an. Und was kann ein Tiefländer schon von der Liebe wissen? Ihr heiratet doch alle des Reichtums wegen. Liebe hat mit einer Hochzeit in der Wüste nichts zu tun. Rein gar nichts.«
Alissa zögerte auf dem Pfad. Sie trugen wieder einmal eines
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