Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
um die eigene Achse gedreht.
Bestie schüttelte sich, und sie flogen durch einen Regenbogen. »Wir haben sogar noch dein Frühstück«, dachte Bestie selbstzufrieden.
Alissa hob den haarlosen Brauenbogen und betrachtete das Häuflein Eier, unbeschadet in ihrem Griff. Sie hatten tatsächlich noch die Eier. Alissa stieß ungläubig den Atem aus und ließ Bestie auf dem Heimweg jeden Aufwind nehmen, der ihr gefiel. Allmählich verlangsamte sich ihr Herzschlag, und die Aufregung des Fluges ließ nach. Alissa glaubte nicht, dass sie es je lernen würde, selbst zu fliegen. Sich dem Wind anzuvertrauen, war einfach zu viel verlangt. Vielleicht ebenso viel, wie von einer Bestie zu verlangen, dass sie die Liebe verstand.
– 2 –
B is sie die verlassene Stadt Ese’ Nawoer überflogen, hatte der Wind Alissa getrocknet. Die dicke Stadtmauer führte die aufstrebende Hitze in einen weichen, blauen Wirbel, der in ihrer Vorstellung ein wenig aussah wie rastlose Seelen, die in den Himmel aufstiegen. Sie umflog den Aufwind, weil er ihr unheimlich erschien, obgleich alle Geister von Ese’ Nawoer fort waren, bis auf einen. Die beinahe menschenleere Feste schmiegte sich an eine hohe Bergflanke. Dahinter stürzte der Berg fast senkrecht ab, bis hinab zur Ebene, die schließlich am fernen Meer endete.
Einst war die Feste ein verborgener Hort der Gelehrsamkeit gewesen, wo die Raku-Meister ausgewählte Menschen, Bewahrer genannt, im Gebrauch ihrer vergleichsweise kümmerlichen magischen Fähigkeiten unterrichteten. Doch von den vielen Meistern waren nur Nutzlos und Connen-Neute geblieben. Vor zwanzig Jahren hatte Bailic, ein ehrgeiziger Bewahrer, die Bewohner der Feste davon überzeugt, dass eine Karte, die Alissas Vater gezeichnet hatte, zu einer fabelhaften »verlorenen Kolonie« von Meistern führte. Doch es war ein Streit zwischen Nutzlos und seiner Gemahlin Keribdis gewesen, der die eigenwillige, selbsterklärte Matriarchin der Feste endgültig dazu bewogen hatte, mitsamt des restlichen Konklaves übers Meer zu fliegen und die Kolonie zu suchen. Sie hatte gehofft, damit eine Veränderung der Machtverhältnisse herbeizuführen. Es war ihr aber nur gelungen, die Feste zu leeren und umso angreifbarer zu machen.
Bailic ermordete die übrigen Bewahrer, darunter auch Alissas Vater. Sobald die Feste leer und Nutzlos in einem unterirdischen Verlies gefangen war, konnte Bailic seinen Plan in die Tat umsetzen. Er wollte die Geister von Ese’ Nawoer zwingen, ihre Seuche des Wahnsinns im Hochland und in der Tiefebene zu verbreiten. Bailic wollte dann als Retter der Welt auftreten, wenn er der Meinung war, Tiefland und Hochland seien genug dafür gestraft worden, dass sie ihn verstoßen hatten.
Alissa und Lodesh war es gelungen, ihn aufzuhalten, doch seit fast zwanzig Jahren hatte man nur ein paar wilde Rakus am Himmel gesehen. Obgleich Nutzlos auf dem Wind und im Geiste überall nach den anderen gesucht hatte, hatte er keinerlei Spur von ihnen gefunden. Die übrigen bewussten Rakus waren also tot, bei ihrer Suche umgekommen.
Der Turm der Feste schimmerte gelblich in der Sonne, deren Strahlen nun erst auf die brach liegenden Felder und Wälder der Ländereien trafen. Doch Bestie lenkte sie auf den ummauerten Garten zu, der die Feste unmittelbar umgab. Mit elegantem Rückwärtsschwung ihrer Flügel landete Bestie auf einer Lichtung, die Alissa für viel zu klein gehalten hätte. Das Chaos, das zwanzig Jahre der Vernachlässigung in Nutzlos’ Garten angerichtet hatten, ließ Alissa stets schmerzlich das Gesicht verziehen: verwachsene Obstbäume, von Gras bedeckte Blumenbeete, die Pfade zugewuchert und mit Moos bedeckt. Es war ein trauriger Anblick.
Alissa fühlte sich plötzlich erschöpft, als Bestie scheinbar verschwand. Nur ein Flug, Angst oder Besties neue Begeisterung fürs Tanzen würden sie jetzt wieder in den Vordergrund von Alissas Gedanken bringen. Müde legte Alissa die Eier ins Gras, um sie nicht versehentlich in ihren Körper mit aufzunehmen, wenn sie ihre ursprüngliche menschliche Gestalt annahm.
Alissa sandte einen Gedanken in ihre Quelle und baute die Schleife geistiger Energie auf, die ihren Bannen Kraft verlieh.
Sie ließ die Pfade in ihrem Geist im korrekten Muster aufflammen. Ein wenig mehr Energie, und mit einem zupfenden Gefühl trennte sie sich kurz von der Zeit ab, als der Bann von ihren Gedanken auf ihren Körper übersprang.
Binnen eines Herzschlags verschwand der überwucherte Garten. Sie löste
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