Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
hatte keine Ahnung gehabt, dass es schon so schlimm geworden war. Mit einer Hand riss sie die Hintertür zur Küche auf. Sie ließ die beiden stehen, die einander verblüfft anstarrten, und knallte die Tür zu.
»Alissa?«, drang Lodeshs geistige Frage zu ihr herein, und sie schloss ihn aus. Sie fand es unfair, dass der Bewahrer versuchte, durch Türen und Wände hindurch mit ihr zu sprechen, während Strell das nicht vermochte.
Schäumend tastete Alissa sich durch die dunkle Küche zum trockenen Spülbecken und wartete ab, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Eine magische Lichtkugel schimmerte in einer Ecke, und sobald sie näher als eine Rakulänge heran war, glomm der Lichtbann als Resonanz auf ihren Pfaden. »Guten Morgen, Nutzlos«, sagte sie missmutig, nachdem sie ihn mit einer raschen gedanklichen Suche aufgespürt hatte. Aus dem Gebälk erklang ein zwitscherndes Willkommen, und sie war nicht überrascht, als Kralle, ihr zahmer Falke, plötzlich auf ihrer Schulter landete.
Die Klauen des kleinen Vogels bohrten sich schmerzhaft in ihre Haut, und Alissa strich mit einem Finger über das Gefieder, längst vom Alter ergraut. Verstohlen warf sie einen Blick auf Nutzlos, um seine Reaktion auf ihre wenig respektvolle Begrüßung abzuschätzen.
»Guten Morgen«, sagte der Meister gedehnt und blickte von seiner Arbeit auf. Dem Gestank nach vermutete sie, dass er gerade Maurerpaste anrührte, um einen weiteren Riss in den zwanzig Jahre vernachlässigten Mauern der Feste zu reparieren. Ihr Lehrmeister hatte seine menschliche Gestalt angenommen, da ein Raku nicht in die Küche der Feste gepasst hätte. Ihre Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie musterte seine goldene, bodenlange, ärmellose Weste, das cremeweiße Hemd und die passende Hose. Er trug die gleiche schwarze Schärpe um die Taille wie sie selbst. Das Licht seines Banns ließ seltsame Schatten auf seinen weißen Augenbrauen und seinem Haar entstehen, so kurz geschoren, dass es kaum mehr vorhanden war. Falten prägten sein ernstes Gesicht und hoben die scharfe Nase hervor.
Er war eher alt als jung, sah jedoch aus, als sei er etwa sechzig Jahre alt, nicht achthundert. Die Finger, die den Rührstab hielten, waren abnorm lang, denn sie hatten vier Glieder statt der üblichen drei. In Verbindung mit seinen goldenen Augen verrieten sie seine Raku-Abstammung auch dann, wenn er seine menschliche Gestalt angenommen hatte. Doch Alissa hatte jedes Mal, wenn sie sich vom Raku in einen Menschen verwandelte, dieselben kurzen Finger und grauen Augen wie immer. Selbst als Meisterin passte sie nicht ganz dazu.
Alissa wich Nutzlos’ fragendem Blick aus, wusch die Eier und legte sie in eine Schüssel. Eines hatte einen Sprung, das legte sie ganz nach oben. Immer noch bedrückt, ließ sie sich an einem der schmalen schwarzen Tische nieder. Kralle hüpfte näher heran und schob den Kopf unter Alissas Finger. Gedankenlos streichelte Alissa ihren Vogel und starrte ins Leere. Sie musste sich endlich über ihre Gefühle zu Strell und Lodesh klar werden. Und zwar bald.
Das Gezwitscher von Spatzen beeinträchtigte die Stille, als die Hintertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Alissa blickte nicht auf, denn sie wusste auch so, dass Strell und Lodesh eingetreten waren. Dennoch störten sie die leisen Geräusche, mit denen irgendwo Holz aufgestapelt wurde.
Lodesh machte sich am kleinsten der drei Herdfeuer zu schaffen. »Möchtest du Eier zu deinem Brot, Alissa?«, fragte er fröhlich.
Alissa blickte auf und fand, dass seine elegante Gestalt seltsam aussah mit der schweren Bratpfanne in der Hand. »Natürlich will ich Eier«, sagte sie. »Warum sollte ich mir die Mühe machen, sie von so weit her zu holen, wenn ich keine wollte?«
Nutzlos hielt mit dem Umrühren inne. Seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen, und Alissa fügte zerknirscht hinzu: »Entschuldigung. Ich hätte gerne Eier. Danke.«
Ihr Blick fiel auf Strell, und sie bemerkte, dass er seinen Kittel wieder übergezogen hatte. Seine Schultern dehnten den braunen Stoff, während er Feuerholz aufstapelte. Ein Klicken war zu hören, als Nutzlos seinen Rührstab beiseitelegte. »Fühlst du dich nicht gut, Alissa?«
Sie blickte verstohlen hoch und schaute rasch wieder weg. »Nein. Ich meine, doch. Es geht mir gut.« Sie holte tief Atem und beschäftigte ihre Finger und Augen mit Kralle. Sie würde Nutzlos nicht sagen, was sie belauscht hatte. Er würde ihr nur noch mehr
Weitere Kostenlose Bücher