Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
schrie und stieß den Hinterfuß nach vorn, um sie sich vom Leib zu halten. Der Stamm, so dick wie ein Fass, knickte ab. Sie passierten ein Gestrüpp wilder Brombeeren, das süß nach Blüten duftete. Vögel flogen auf, Zweige knacksten und krachten.
Keuchend blickte Alissa auf die Schneise der Zerstörung zurück. Connen-Neute war im dornigen Gestrüpp stecken geblieben. Rote Kratzer zogen sich über seine Schwingen. Seine goldenen Augen blieben hitzig auf sie gerichtet, während er versuchte, sich zu befreien. »Hoch!«, befahl sie Bestie. »Die Bäume stehen zu dicht. Flieg wieder hoch!«
Doch Bestie ignorierte sie. Alissa spürte, wie sie die Lefzen hochzog und die langen Reißzähne bleckte; Besties Erregung wuchs. Noch nie hatte jemand sie zu Boden gebracht, außer Nutzlos. Mit halb angelegten Flügeln sprang Bestie durch eine Öffnung und über einen schnell dahinfließenden Bergbach hinweg. Ihre Schwingen öffneten sich. Bestie flog stromabwärts und nutzte den Vorteil der offenen Fläche, um rasch an Geschwindigkeit zu gewinnen.
Alissa riskierte einen Blick zurück und sah Connen-Neute unbeholfen zum Ufer des Flusses hüpfen. Hochspritzendes Wasser kühlte ihren Bauch, und ihr langer Schwanz fühlte sich bereits eiskalt an. Das Donnern und Tosen des Wassers wurde immer lauter. Sie flogen bergab auf einen Wasserfall zu.
Die felsigen Ufer rückten immer näher zusammen, und es blieb kaum mehr Platz zum Fliegen. »Äh, Bestie?«, begann Alissa zittrig, als sie die Sackgasse vor sich sah. Sie hätten über den Wasserfall hinweg in den freien Himmel steigen können, doch der dichte Wald machte aus der Schlucht einen Tunnel, aus dem nur das Wasser entkommen konnte. Zu allen Seiten bildeten Zweige und Ranken eine undurchdringliche Wand. Über ihnen bogen sich die Bäume über den Fluss, die Äste verwoben sich zu einem Dach. Das Wasser schäumte und toste an die Felsbrocken und Baumstämme, die sich vor dem Wasserfall verkeilt hatten. Und Bestie machte keine Anstalten, langsamer zu fliegen.
»Bestie, da kommen wir nicht durch!«, warnte Alissa. Sie blickte auf und stellte sich vor, wie weh es tun würde, diese feste Decke aus Ästen durchbrechen zu müssen. Ihre Schwingen schlugen im Takt mit ihrem Herzschlag.
»Dann müssen wir wohl darunter durchtauchen«, summte Bestie, aufgepeitscht von der Jagd.
»Bestie!«, rief Alissa. »Du weißt doch gar nicht, was unter dem Wasser ist!«
»Wasser, Wind, das alles folgt denselben Bewegungen«, erwiderte Bestie. »Er wird darum herumfliegen. Wir werden ihm hundert Schwingenschläge voraus sein!«
Alissas Vertrauen in Besties Flugkünste geriet ins Wanken. »Ich habe es mir anders überlegt. Er darf uns ruhig folgen.« Alissa zögerte. »Bestie?« Angst packte sie. »O nei-i-in!«, kreischte sie, als Bestie tief Luft holte und unter das Wasser tauchte, um mit dem Fluss über die Klippe zu stürzen.
Unter dem Blubbern vieler Bläschen war das Grollen des Flusses zu hören. Das Donnern des Wassers, das am Grund der Klippe aufschlug, hämmerte gegen ihren Körper. Ihr zweites Augenlid schloss sich, und alles erschien nur noch grün, schwarz und grau. Steinchen schürften ihr die Haut ab. Unsichtbare Kräfte schleuderten sie hin und her, während Felsbrocken aus dem Nichts erschienen und hinter ihr verschwanden. Bestie schwamm auf den Strömungen, als seien sie aus Luft. Das Wasser schleuderte sie hinab, und Alissa riss die Augen auf. Es drehte ihr den Magen um. Sie waren über den Rand gestürzt, und das Wasser würde sie zerschmettern!
»Bestie!«, kreischte sie in ihrem Geist, verängstigt von Besties wilder Gier zu fliegen. Ihre Hinterbeine schnellten unter ihren Körper. Im Fall stieß Bestie sich von der Felswand der Klippe hinter ihnen ab.
Grünes Licht wurde mit einem Blitz wieder zu Gold, als Bestie sie aus dem Wasserfall ins Freie katapultierte. Sie waren schwer vom Wasser und fielen schnell. Ihre Schwingen öffneten sich, und sie stiegen auf dem kühlen violetten Aufwind voller Sprühnebel empor. Alissa kreischte, diesmal triumphierend, und der Schrei drang als wildes Brüllen aus ihrer Kehle. »Du hast es geschafft!«, schrie sie.
»Zu Asche sollst du verbrannt sein, Alissa!«, hörte sie Connen-Neutes Gedanken über und weit hinter sich. Alissa bog den Hals und sah ihn mühsam im Geäst herumklettern. »Bestie wird dich eines Tages noch umbringen!«, schrie er sie an.
»Wir sehen uns zu Hause!«, erwiderte Alissa und fand sich plötzlich in einer Rolle
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