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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Begegnung – sofern „Begegnung“ dafür ein angemessenes Wort war – hatte sich Aljoscha halb erholt. Aufgeklärt dagegen war rein nichts. Noch immer konnte er nur spekulieren, welches Wissen aus der Nacht der Katzenmenschen in IHREM Blick verborgen lebte. Noch immer mußte er sich fragen, ob er nach jenem Schwarzweißfilm aus dem Jahre 1942 verbotene Sehnsucht heraufbeschworen hatte: Sehnsucht, die dann als deutlich erkennbare Konfiguration auf dem Radarschirm des Schicksals erschienen war und die Abteilungsleiterin Nemesis zu der Maßnahme provoziert hatte, ihn, Aljoscha, mit Realität zu strafen und eine für jedermann sichtbare Inkarnation seines Gedankenverbrechens zu erschaffen. Noch immer mußte er sich fragen, ob bei ihm noch alles stimmte.
    Kein zweites Mal sollte sein Abstieg zu IHR den mechanischen Bewegungen einer hölzernen Marionette gleichen. Die nebulösen Umstände, die ihn beim ersten Mal zur Stelle gerufen hatten, wichen einer Unternehmung bei völlig klarem Verstand. Woche für Woche wiederholte Aljoscha das Ritual und ließ an jedem Dienstag alles so geschehen wie am ersten Tag.
    Ob SIE auf ihn wartete, konnte er nicht sagen. Aber schon sehr bald hatte er Gewißheit, daß er SIE nicht suchen mußte. Jeden Dienstag fand Aljoscha SIE präzis und unabänderlich an jener Stätte, wo ihn IHRerster Blick getroffen hatte, so als verlangte ein Gesetz, im beinahe menschenleeren Parkett des Hörsaals die Zusammenkunft herbeizuführen. Nachdem drei oder vier dieser systematischen Begegnungen stattgefunden hatten, mußte auch SIE Gewißheit haben, daß er jeden Dienstagvormittag zur selben Zeit auftauchte und buchstäblich in IHREN Schutzkreis eindrang, den Höflichkeitsabstand zu nicht vertrauten Individuen eindeutig unterschreitend. Trotzdem wechselte SIE niemals den Platz, SIE zeigte sich nicht pikiert, SIE stellte ihn nicht zur Rede. SIE reagierte gewissermaßen überhaupt nicht, aber das dünkte Aljoscha eine sehr eingeschränkte Betrachtungsweise.
    Warum er hier, im Niemandsland des Hörsaals, keinen Platz wählte, der es ihm erlaubt hätte, SIE anzuschauen, wußte nur das Gesetz, und das Gesetz hatte beschlossen, daß er den Grund für seinen Abstieg in die Unterwelt während der ganzen Rembrandt-Vorlesung nur einige Sekunden lang erblicken durfte: weniger Sekunden, als sich an vier Händen abzählen lassen. Drei Hände gehörten IHREM Haar, das in sanften Wellen auf die Schultern fiel. Die letzte Hand war reserviert für IHRE auffällige Haltung: sehr damenhaft, diszipliniert und streng. Sobald SIE ihn bemerkte, bedachte SIE ihn mit einem kurzen Blick, der weder freundlich noch abweisend war, nicht verklärt, aber auch nicht beiläufig. SIE gewöhnte ihn an das exakte Maß eines Augenblicks.
    War dieser verstrichen, setzte sich Aljoscha auf seinen prästabilierten Platz, eine Reihe tiefer, und sobald er einmal saß, war SIE definitiv als Anblick eingebüßt. Aljoscha holte sein Papier hervor, schrieb das Datum auf die erste Seite und wähnte sich fortan unter Beobachtung. Was sie verband, wußten die Götter. Was sie trennte, war eine Armlänge. Sich noch einmal zu IHR umzudrehen, war gegen die Spielregeln. Warum? Weil Weil gefallen war. Sie waren in der Unterwelt. Durfte Orpheus sich umdrehen, um in Eurydikes Gesicht zu schauen?
    Den ganzen Hofstaat ringsumher hatte Aljoscha aus seinem Bewußtsein verbannt. SIE allein, die unbewegte Bewegerin des Rituals, war existent. Aljoscha saß nicht direkt vor seiner Komplizin, sondern, so war das Gesetz, um einen Platz nach rechts versetzt: wenn er sich zurücklehnte, befand sich seine linke Schulter in minimaler, kaum noch meßbarer Entferung zu IHREM rechten Knie, getrennt nur durch das dünne Holz der Rückenlehne. Wenn er sich dem Katheder zuwandte, flirrten am linken Rand seines Blickfelds die Bewegungen IHRER Hand, die den Stift führte; er erforschte den Rhythmus IHRER Mitschrift undtrieb seinen obskuren Ritus manchmal so weit, daß er nur dann etwas notierte, wenn auch SIE schrieb. Auf diese verschlüsselte Geste folgte eine verschlüsselte Reaktion.
    Aljoscha hatte ein Gespür entwickelt für den Zeitpunkt, an dem Professor Warnkin auf geistige Abwege geriet und verschroben mit der Abgründigkeit des Banalen kollidierte. Gab es einen Altarkelch zu rühmen, gab es neunmal keinen Besseren als Warnkin. Beim zehnten Mal reflektierte er, völlig in den Bohnen, über in den Meßwein geplumpste Fliegen. Der Hochadel nahm es gefaßt hin. Aljoscha aber

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