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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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konnte sie ohnehin nur der eigenen Erinnerung anvertrauen.Vielleicht war es ein Spiel: ein wortloses Spiel, das keinen Lebenslauf störte, vorüberwehend wie eine vergessene Legende und mit dem letzten Dienstag des Semesters schon wie nie gewesen. Und so hatte er Leda nur erzählt, daß bei dieser Vorlesung stets dieselbe Frau in seiner Nähe saß, und da Leda sich noch gut an den allerdings männlichen und überaus gesprächigen „Kurschatten“ erinnerte, der Aljoscha bei einem Hegel-Seminar im letzten Jahr gefolgt war, hatte ihre gelinde Empörung einen mild amüsierten Unterton, und warum denn nicht, warum hätte sie denn Kränkendes entdecken sollen in Vorkommnissen, die doch nicht schwer genug wogen, um zu verletzen. Übrigens, welche „Vorkommnisse“ eigentlich? Im Lichte objektiver Prüfung gab es gar kein Vorkommnis. Nicht eines. Kein Argusauge hätte auch nur das geringste Vorkommnis entdecken können. Keiner der übrigen Anwesenden hätte SIE und Aljoscha einer Sache bezichtigen können, die auch nur im entferntesten einem Vorkommnis glich.
    Gleichwohl entsprach es einer Wahrheit (einer anderen vielleicht nicht), daß diese Frau und er ein magisches Feld erzeugt hatten: es zu verlassen, war ihm untersagt, es zu betreten, war anderen untersagt. Ein einziges Mal versäumte Aljoscha den Beginn der Vorlesung, und auf der Stelle ergoß sich Unbill über ihn. Da die dichtgedrängten Zuhörer auch schon alle Treppenstufen besiedelten, hätte Aljoscha seinen Platz an diesem Morgen nur noch mittels militanter Manöver erreicht. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erblickte er allerdings einen unbesetzten Platz in der Nähe der Tür – und bestieg den Narrenstuhl, den Stuhl, der keine Gnade kannte, ein morsches Ungetüm, das knarrte wie die Höllentür, sobald man sich bewegte, sobald man nur atmete, was nicht immer zu vermeiden war, und das jeden Augenblick mit Einsturz drohte. Schwankende Planken, sobald er den Hafen verfehlte. Eine halbe Stunde lang saß er am Rande des Abgrunds, wehrte die bösen Blicke seiner Nachbarn mit einem noch böseren Blick ab und plagte sich mit der Frage, ob SIE ihm diese Eskapade wohl verzieh. Hätte er seiner Gefährtin wenigstens bedeuten können, daß es nicht sein Wille war, sich aus IHRER Nähe davonzustehlen – Pein! O Pein! Dreck auf deinen Bart, Teufel!
    Und damit nicht genug. Als Aljoscha seine Strafe endlich abgesessen hatte, richtete zu allem Überfluß auch noch eine der Hofdamen das Wort an ihn. „Ich möchte Ihnen etwas schenken“, sagte sie, übergab ihm monalisisch lächelnd ein Stück Konfekt und eilte von hinnen. Waswar jetzt das? Und wie kam es überhaupt dazu? Und die ungeheuren Folgen, die das haben konnte! Was, wenn SIE ihn ausgerechnet jetzt beobachtete, da er involviert schien in Vertraulichkeiten? Herr, der Morgen war verrottet.
    Aljoscha beschloß, es sich mit der Pralinenspenderin so schnell wie möglich zu verscherzen. Er fing die Unselige am nächsten Dienstag in einem passenden Moment ab und tat ihr mordlustig kund, daß er die Süßigkeit schlichtweg verzehrt habe. „Dafür war sie auch gedacht“, sprach die Verblendete. Warum emigrierte sie nicht, warum nahm sie kein Flugzeug ins Ausland? Aljoscha ahnte, daß seine Gleichgültigkeit noch nicht hinreichend dokumentiert war.
    Und wiederum eine Woche später drohte vollends ein Eklat, als die Pechmarie es wagte, sich zu Beginn der Vorlesung neben Aljoscha niederzulassen, so rasch, als wäre sie aus einem Hinterhalt gesprungen und so selbstverständlich, als würde sie hier gleich einen Hausstand gründen wollen. Direkt vor den Augen der Katzenmenschenfrau! Hoho, ho! Erwarte von mir keine Silbe, dachte Aljoscha. Nicht einmal eine Begrüßung. Nicht vor dieser Zeugin! Ich bin überhaupt nicht da. Und für mein Alter leider schon ziemlich taub. Außerdem bindet mich ein Gelübde, den Kopf niemals nach links zu wenden. Man hat mir übrigens inzwischen die Zunge ausgerissen. Was scheren mich Manieren? Soll sie mich für einen Rüpel halten. – Nicht für 30 Silberlinge hätte Aljoscha ihr einen Guten Morgen gewünscht, nicht einmal Faustschläge hätten ihn dazu gebracht, sie anzusehen. Die Stunde forderte Unnachgiebigkeit. Aljoschas Gereiztheit war ihm todernst. Er sah nicht hin und schwieg.
    Schwieg für SIE, die Sphinx, die gleichfalls schwieg, das Schweigen einer endlosen Distanz, und doch spürte er die Blicke dieser Frau wie Flügelschläge eines zarten Vögelchens, entwischt aus

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