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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Trost nochSicherheit und keine Sicherheit noch Trost. Die Spitze, auf die er es trieb, war spitzer als die Krallen einer Raubkatze. Er fühlte sich wie eine Morddrohung. In seinem Exemplar des Romans der Beauvoir fand er etwas, das er nicht gesucht hatte, und schrieb es seinerseits auf eine Karte für Leda:
    „Gerbert leerte nachdenklich sein Glas. Es war komisch zu denken, daß Labrousse sich wandeln könnte; Gerbert hatte ihn immer als eine unveränderliche Größe angesehen. Er hatte eine Antwort auf alle Probleme bereit; man sah nicht, welche neuen Fragen er sich noch stellen könnte .“
    Ja, es war komisch zu denken, daß es keine unveränderliche Größe gab. Mag Verwandeltes erschrecken; der Wandel selbst macht wehmütig. Daß etwas war, genügt vollauf, um elegisch zu stimmen. Trauer um den Fluß der Dinge, wie man in Japan sagt. Der Fluß, der sich um uns nicht kümmert, der keine Rücksicht nimmt auf unsere innere Zeit und aufs Verweilenwollen. Nicht einmal Bedauern oder Reue widerstehen dem Fluß. Nicht einmal die Gründe für das Leid und den Schmerz bleiben, was sie sind.
    „Hast du keine Angst?“ fragte Sonja. Sie saß mit Aljoscha in einem schäbigen Lokal an einem schäbigen Tisch, auf dem schäbige Gläser standen, und sie tranken auf den Abschied: Sonja würde morgen in ihr Abruzzen-Dorf zurückfahren. Sie hatte die Folgen der von Aljoscha angerührten Kalamität hautnah miterlebt – sie hatte bei Leda gewohnt.
    „Ob ich keine Angst habe?“ Aljoscha zeigte auf sein Herz. „Da drinnen explodiert etwas. Ganz langsam. Kannst du dir eine langsame Explosion vorstellen?“
    „Nein.“
    „Das kann man sich auch nicht vorstellen.“
    Er dachte, daß es Sonjas gutes Recht gewesen wäre, über ihn den Stab zu brechen oder mit ihm ins Gericht zu gehen. Aber sie tat nichts dergleichen. Sonja hatte Aljoscha zugehört wie einem Totgeglaubten, der plötzlich wieder aufgetaucht ist.
    „Erinnerst du dich an den Zuckerstreuer, der nur noch ein Zuckerstreuer war?“
    Sonja nickte, sagte aber nichts darauf. Es gab darauf auch nichts zu sagen. Der Kellner rückte vor einem schäbigen Spiegel sein Toupet zurecht. Die Musikbox spielte schäbige Musik.
    „Ja, ich habe Angst“, sagte Aljoscha. „Aber das Schlimme ist, ich will es genau so, wie es jetzt ist. Wie in diesem Tingeltangel hier. Ohne Tüncheund kaum auszuhalten. Fehlt nur noch die Lola auf der Bühne, mit der spöttischen Gesangseinlage: willst du ein paar Illusionen kaufen, leicht gebraucht… mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause, ein Wohin gibt es auch nicht, aber genau dorthin geht es jetzt. Ich fühle mich, als würde ich durch einen Wald von Schwertklingen laufen, und ich habe auch keine andere Wahl. Aber genau das ist meine Wahl. Das, worauf es ankommt, ist – beim Zusammenbruch stehenzubleiben.“
    „Aber wie lange kann man diesen Zustand aushalten? Wie lange wird Leda es können?“
    „Ich könnte nicht von ihr verlangen, es auch nur noch einen einzigen Tag auszuhalten.“ Aljoscha leerte nachdenklich sein Glas. „Wie soll man ausweichen, wenn das ganze Leben einen einholt? Wie kann ich mich rechtfertigen? Soll ich einen ganzen Menschen rechtfertigen?“
    „Leda erwartet nicht, daß du dich rechtfertigst.“
    „Sie sieht mich an und weint.“
    „Das wundert dich?“
    „Nein.“
    „Du hast mir einmal einen Satz geschrieben aus einem chinesischen Buch“, sagte Sonja. „Er hieß: Dem Wanderer verbrennt die Herberge. Oder auch: Der Wanderer verbrennt seine Herberge.“
    „Das wäre schon ein Unterschied, nicht wahr?“
    „Am Ende nicht.“
    „Nein, am Ende nicht. Aber vielleicht wäre noch die Frage, wer sich eigentlich entfernt hat, Leda oder ich. Nur ich darf diese Frage nicht stellen, verstehst du, ich nicht… ich sage dir, dieser Zustand wird so lange auszuhalten sein, bis klar ist, daß ich in der Egoismus-Hölle brate. Aber weißt du? Egoismus, das ist oft nur das Geräusch, das entsteht, wenn man mit dem Kopf gegen eine Mauer stößt! Und nun zu der Frage, was ist schiefgegangen mit der Evolution? Die Menschen haben keinen Detektor, der ihnen anzeigt, ob sie einander noch lieben, das ist schiefgegangen mit der Evolution.“
    „Weißt du, warum ich an diesen Satz vom Wanderer dachte?“
    „Warum?“
    „Es ist merkwürdig, aber wenn ich an dich denke, sehe ich immer noch diesen Menschen, der nie bleiben kann, der am Ozean sitzt und Lieder gegen die Brandung singt und unterwegs ist zu dem Ort, den keiner kennt und

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