Aljoscha der Idiot
Tag, denn ihm wuchs alles über den Kopf. Aber SIE, SIE trug eine schwarze Chapka, die wahre Kopfbedeckung einer Fürstin, nein, die Kopfbedeckung einer wahren Fürstin – unwillkürlich legte Aljoscha eine Hand auf sein Herz: ein altes ägyptisches Zeichen der Bewunderung.
Zu seiner großen Verwunderung ging SIE voraus. Ergeben folgte er IHR in ein fast leeres Abteil, blieb bei der Tür stehen, SIE stand auf der anderen Seite des Gangs, drei Meter entfernt, beide in Fahrtrichtung blickend, als wäre Isis dort zu grüßen, die Beschützerin der Seefahrt. Aljoscha, der semantische Seemann, hatte noch sein Buch in der Hand, also sah er wieder hinein und las einen Satz von unwahrscheinlichem Gerechtwerden: „Er schwang sich zaudernd von einer Seite auf die andere, gleich einem verwirrten Tier und starrte diese blasse, wunderbare Frau an, die er mit jeder Fiber seines bebenden Körpers begehrte .“ Angeblich Nijinsky in einer Tanzszene, tatsächlich aber ein Eintrag aus dem Logbuch dieser D-Dur-Seefahrt. Die Metro fuhr an, die Isisbarke legte ab, Schneeflocken fielen ins Meer, die Erde rollte durch das All.
Auch im Metrowaggon war es kalt. Aljoscha steckte das Buch ein, produzierte sein lumpenproletarisches Schnupftuch und schneuzte sich absichtlich wie Huckleberry Finn im Kunstsalon. Er hatte eindeutig zuviel Tee in sich, wie man in Japan sagt. SIE wartete kurz, entnahm dann IHRER Manteltasche ein tadelloses, sublimes Taschentuch, ein mouchoir eigentlich, und tupfte sich dezent die Nase. Potztausend und Klabautermann! Wer kalfatert die Fugen, aus denen die Welt ist? Dann blickte SIE ihn an. Zum ersten Male heute blickte SIE ihn an, und Aljoscha vergaß, welchem Jahrhundert er angehörte, in IHREN Augen, in diesen Abgründen, in die SIE ihn fallen ließ, in diesen Tiefen, in denen Wollust durch Schmerz und Schmerz durch Wollust ausgedrückt wurde, in denen Entscheidungen darauf warteten, gefällt zu werden,
DOES EVERYONE STARE THIS WAY AT YOU
in denen das Fauchen am Rande des Schwimmbeckens zu ahnen war,
I ONLY STARE THIS WAY AT YOU
in denen eine Seele umging nach Art der felidae – diese Augen, die jede Dunkelheit durchdrangen und eine Atmosphäre äußerst okkulter Exzesse heraufbeschworen, diese Augen ließen glauben, daß SIE ein Strumpfband trug aus Rosenzweigen, besetzt mit Dornen. Augen, mit namenloser Einsamkeit vertraut, Augen des Gefesseltseins undder Versagung, Augen, die SIE jede Nacht wie unter einem Bannfluch schloß… konnte es denn sein, daß IHRE Augen darum ruhelos und furchtsam wirkten, weil es die Augen einer Frau waren, die sich eingesteht, daß sie – liebt?
Idiot! Idiot! Idiot!
Die Metrotür ging auf in Dobropol: SIE stieg aus. Die Empirie ist eine strenge Dame mit Hornbrille, die von ihrem Mikroskop aufblickt und spitze Lippen macht: „Ich wüßte nicht, wo hier ein Vorkommnis sein soll, Schüler Tuschkin!“
Sehr wohl. Keine besonderen Vorkommnisse. Ende.
28
Es gibt keine Klarheit. Es gibt keine Gewißheit. Es gibt kein Setzen ins Bild. Es gibt kein dummes Zeug. Es gibt kein Bringen zur Räson. Es gibt keine Flinte im Korn. Es gibt kein Verlaufen im Sand. Es gibt kein Schreiben in den Wind. Es gibt kein Kommen auf die Schliche. Es gibt kein Ausschütten von Herzen. Es gibt kein Saugen aus den Fingern. Es gibt kein Bleiben auf dem Teppich. Es gibt kein Kommen auf den Hund. Es gibt kein Abkaufen von Schneid. Es gibt kein Ziehen durch den Kakao. Es gibt kein Lachen ins Fäustchen. Es gibt kein Einbrocken von Suppe. Es gibt kein Kippen hinter die Binde. Es gibt kein Pfeifen aus dem letzten Loch. Es gibt kein Haben von Oberwasser. Es gibt kein Nehmen von Reißaus. Majakowski sagt in Ich habs satt: „Es gibt keine Menschen. Nur ein großes Vermissen.“
Aljoscha fand eine Postkarte im Briefkasten. Ein Zitat aus dem Roman von Simone de Beauvoir, wie damals. Aljoscha las: „Wir beide sind einfach eins; du weißt, das ist wahr, man kann einen von uns ohne den anderen gar nicht richtig beschreiben … Wir sind nur eins, wiederholte sie bei sich selbst. Solange sie irgend etwas, was geschehen war, Pierre noch nicht erzählt hatte, war es nicht ganz wahr; es schwebte dann noch reglos und ungewiß in einer Art von Nimbus umher .“
Eine Liebe unter dem Einbruch einer dritten Person in ihre Sphäre, davon handelte das Buch. Aljoscha versuchte sich zu erinnern, ob es auch davon handelte, daß man keiner Wahrheit ausgeliefert ist außer der inneren. Zehn Jahre, und auf einmal versprach kein
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