Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
Vom Netzwerk:
andere, und das war eine Sekunde zuviel.
    „Ich hätte nie geglaubt, daß es in dir sein könnte, dieses – Anderssein ! Du bist mit einem Schlag ein Fremder geworden für mich!“ Leda hieltsich die Hände vor Augen. In der Genesis heißt es, der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Von der Erschaffung des Wassers ist nicht die Rede. Noch bevor Licht von Finsternis geschieden ist, noch bevor der Himmel nach oben gehängt ist, sind schon alle Ozeane vollgeweint.
    „Letzte Nacht habe ich geträumt, daß ich all meine Sachen in zwei Kisten packe“, sagte Leda. „In die eine Kiste tat ich alles, was mit dir zu tun hatte. Für die andere Kiste hatte ich dann nichts mehr.“
    „Nichts mehr?“
    „Fast nichts.“
    „Ich habe mir auch gewünscht, daß wir nur eine Kiste hätten, Leda. Ich habe keine eigene Welt gewollt. Ich habe unentwegt an dich gedacht. Ganz gleich, wo ich war. Und vielleicht sah es nicht so aus, aber ich habe jede Sekunde auf dich achtgegeben. Ich habe jeden Atemzug von dir bewacht. Und manchmal warst du weit weg, obwohl du bei mir warst. Du hast mit mir geredet, aber ich kam mir vor wie ein Strohmann.“
    „Das ist nicht wahr. Das denkst du dir aus.“
    „Hast du nie gefühlt, daß wir vielleicht einander Quartier geben, aber nicht wirklich ein Wohnhaus haben?“
    „Nein, Aljoscha. Nein.“
    Ein geisterhaftes Lächeln, verklingend wie ein Harfenton. Leda nahm eine Postkarte vom Fensterbrett und legte sie, einen Augenblick der Unschlüssigkeit überwindend, in Aljoschas Hand. „Das habe ich heute für dich gekauft“, sagte sie.
    Das Bild kam Aljoscha bekannt vor. Er drehte die Karte um. Es war ein Gemälde von Poussin.
    „Um dich kämpfen kann ich nicht“, sagte Leda. „Und für dich kämpfen kann ich auch nicht.“
    A-Dur untergraben von Strömen in Moll. Käme nur der Genius, um zu erlösen von der Unfähigkeit und von der Entwürdigung, ein ephebenhafter Schutzgeist, der Leda bei der Hand nähme und dem sie nicht mißtrauen konnte… Aljoscha fühlte, daß dieses Wesen in ihm war, und daß er es auf der Stelle befreien müsse. Aber er fühlte auch, daß da noch ein Wesen war, das dem Schutzgeist ein Messer an die Kehle setzte. Es war nicht so, daß er nicht kämpfte.
    „Was mach’ ich ohne dich? Wenn ich ohne dich leben muß, was habe ich dann noch? Meine Arbeit? Ich werde sie tun, bis ich ganz betäubt bin und alles vergessen habe. Und wenn das nicht hilft… Aljoscha, warumverstehst du es so falsch? Ich kann nichts dafür, daß ich so kritisch bin… jeden Tag in der Metro sehe ich mir all die Menschen an und weiß, daß ich für niemanden von denen auf der Welt sein könnte, ich weiß nicht, ich fühle mich nicht zugehörig. Ich bin nur bei dir gut aufgehoben. Du bist der einzige, der versteht, was ich fühle und denke und sage. Und du weißt das alles noch nach einer Woche und noch nach einem Jahr. Du bist der einzige, der mir zuhört.“
    „Du hast mir auch schon das Gegenteil gesagt.“
    „Habe ich? Dann widerspreche ich mir.“
    „Darf ich dich einmal küssen?“
    „Das wirst du mich nie fragen müssen. Nie.“
    Leda saß mit gespreizten Beinen auf dem Schoß des Fremden, den sie einst geliebt, und ihre Stimme war wie aufgerauht: „Ich fühle alles siebenmal so heftig…“ – und Aljoscha hielt die wie Zerschlagene, sich nicht mehr Kennende, ihren Peiniger Umschlingende als Andersartiger, die lumpenproletarische Mütze nicht etwa abgesetzt.
    Und doch war ihr Verlangen eine Montage aus zwei Wirklichkeitsbereichen, war diese Umschlingung ein Segment im Maya-Schleier der bloßen Erscheinungsformen. Aljoscha wußte, er war sich abhanden gekommen. Er wußte, er würde nicht mehr auf der schattenlosen Seite gehen können, die gewöhnlichen Himmel waren ihm versagt. Über die vertraute Welt kam Unheil, und Aljoscha war ihm untertan. Mea culpa, mea maxima culpa, murmelte der Mann mit dem ringförmigen Stigma am Finger, dem stigmaförmigen Ring mit dem monarchischen Siegel, dem Zeichen der besiegelten Dämonarchie der Katzenmenschenfrau.
    Als Aljoscha am Dienstag, dem 20. Januar, nach dem Seminar bei Madame Woronska vom Philosophenturm zum Hauptgebäude ging, trat ihm ein asketisch aussehender Mensch entgegen, ein wahrhaft ausgemergelter Erdengast, am Ende Bettelmönch oder womöglich Gnostiker, scheinbar mit der Intention, allen, die sich der Läuterung versagten, Steine in den Weg zu legen. Nur zu.
    „Bruder“, kam der Pneumatiker aus sich heraus, „kommst du an einem

Weitere Kostenlose Bücher