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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Nähe lebte.
    Und jetzt verstand er. Menschen wissen, ohne zu wissen. Die Straße, die von dieser Kreuzung, die Leda solches Unbehagen einflößte, nach rechts abzweigte, war die Straße, in der Katharina Rogowskaja wohnte.
    „Manchmal weiß ich einfach nicht, warum ich jetzt diese Wohnung für mich allein habe“, sagte Leda. „Ich gehe herum und frage mich, wo das zweite Zimmer ist. Das Zimmer für dich. Und dann fällt mir wieder ein, warum es nicht da ist.“
    Aljoscha zu sehen war für Leda wie beißender Rauch, der ihr Tränen in die Augen trieb. Er sah doch aus wie derselbe Mensch – aber er war es nicht mehr. Er brachte ihr Alleingelassensein und Fortgegangensein; er machte, daß Mißtrauen sie befiel, er brachte ihr die Angst, daß das Mißtrauen gerechtfertigt war.
    „Meine Eltern glauben nicht, daß ich allein zurechtkomme, niemand glaubt es. Du bist überhaupt der einzige, der sich darüber freut, daß ich diese Wohnung gefunden habe.“
    Wenn Leda wußte, ohne zu wissen, dann machte dieser letzte Satz aus ihm ein Wesen, dessen Blick die Wölfe heulen ließ.
    „Mir soll auch keiner beim Renovieren helfen“, sagte Leda. „Nur du. Kennst du dich eigentlich mit elektrischen Leitungen aus?“
    „Man muß dieselben Farben zusammenbringen, glaube ich. Aber wenn ich mir Stromkabel ansah, waren da nie dieselben Farben.“
    „Es scheint mir alles so schwer. Meine Zweifel sind nichts Geistiges mehr. Sie bewohnen meinen Körper. Ich brauche dich, Aljoscha. Ich habe niemanden sonst, der mir sagt: es wird alles gut. Und ich glaube auch niemandem sonst.“
    „Nein?“ fragte Aljoscha. Ihm fiel nichts anderes mehr ein vor nackter, panischer Verlegenheit. Es würde jetzt sein, jetzt.
    „Ich habe solche Angst… Aljoscha… ich habe das Gefühl, du erzählst mir nicht alles… ist das wahr? Ist das wahr, Aljoscha?“
    Jetzt. Hier.
    „Ja.“
    Schon die ersten Worte waren wie Schläge. Schon Aljoschas Stimme war, als müßte man ein Blutbad mit ansehen. Schon die ersten Andeutungen waren meuchlerisch.
    „O Gott, was ist nur los ?“ – Leda zerbrach. Aljoscha fühlte eine Unmöglichkeit, zu sein.
    Leda sagte, sie glaube nicht mehr, daß sie je eine Tochter von Aljoscha haben werde, aber wenn doch, dann könne sie nicht mehr Katharina heißen.
    Sie verschwamm vor seinen Augen.
    Das Wesen mit dem Blick, der Wölfe heulen läßt, schleicht durch den kranken Nebel. Es ist der Mann, den das Schicksal deplaciert hat. Er folgt Fußspuren, die seine eigenen sein könnten, und er hofft, daß der Totengräber nicht schon hier war. Er fühlt sich wohl im Nebel. Wie sagte Majakowski, damals, als er noch lesen konnte: „Alles ergötzt den Vermaledeiten“. Da ist eine schwere dunkle Wolke, und sie bringt Regen Regen Regen. Es gibt das Wasser nicht, in dem er seine Hände waschen könnte. Er liegt vor jedem Glück in Ketten. Er hat die Wunde gerissen, die aus dem Leben reißt. Er ist es, der los ist, er. Gegen alle Heilung resistent. Inkurabel. Er ist wie ein Monster, das nicht anders kann. Es ist sein Los, sich von seiner Tat nicht trennen zu lassen. Sein Leben gehört in diesem Augenblick nur ihm. Darum erwartet er die Ankläger mit fast beifälligem Gleichmut. Er kennt die makellose Klarheit, die im Herzen der Verwirrung liegt. Er würde lächeln über alle Flüche, wenn er jetzt noch lächeln könnte.
    Während der Wij verdrehte Kirmeslieder auf der Kirchenorgel intoniert, hört er eine Frauenstimme: „Keiner weiß, wie ich ihn geliebt habe!“ – es ist der Aufschrei über einem Sarg, aber er hat keine Sympathie für diesen Aufschrei. Denn der Mann, der nichts mehr hört, hat es womöglich auch niemals erfahren. „Damit herausrücken, wenn es zu spät ist…“, zischt er mit Eisesstimme und vergißt, wie er den Satz vollenden wollte. Er kennt im Moment kein wichtigeres Problem als das mathematische Resultat der Addition zweier Unausweichlichkeiten. „Moja koschka“, wispert er, „moja koschka…“ Was hat ihn befallen? Was war seine Tat? Der Herzenstausch mit einer Blutsverwandten. Inzest mit einer Angehörigen des Totems.
    Er ist los, Ledas Los, bestimmt dazu, in ihr Sein einen tödlichen Stachel zu setzen, bestimmt dazu, sich zu neuem Werden anzustacheln. Denn der Erstgeborene war tot geboren. Doch jetzt, wandernd durch den Nebel im Land des Dritten Auges, wo der Zweiäugige blind ist, erkennt er, daß Menschsein nirgends endet. Er kann nie mehr sein, was er einmal war, und er muß es wagen, sein Verblassen

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