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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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wiedergängerisch hinauszuzögern. Fußspuren vor ihm, Fußspuren hinter ihm, sind es dieselben? Er wird unberührbar sein nach Berührung der Unberührbaren. Er hat begehrt, ein Vorgang in IHREM Geist zu sein, er hat begehrt, daß es aus IHREM Herzen keinen Ausweg mehr gibt. Erweckt zu werden aus dem Reich der Totgeborenen, Zweitgeborener zu sein durch IHRE Liebe, das ist sein Begehr. Er muß werden, was er ist. Er hofft nur noch, daß nicht seine Fußspur die des Totengräbers ist.
    Manchmal macht der Zeitpunkt die Lüge. Er hatte den Zeitpunkt der Wahrheit verwirkt. Aber wenn Leda jetzt, da sie weniger Grenzen kannte als je zuvor, ehrlicher war als je zuvor, lag auch darin eine Lüge.
    Als Goethe einmal bei Schiller hereinschaut, führt Charlotte, die Gemahlin Schillers, den Geheimrat in die Studier- und Schreibstube des noch Abwesenden. Goethe geht ein bißchen auf und ab, summt eine west-östliche Melodei, blickt aus dem Fenster und denkt: das Leben wird Herder. Manchmal möchte man einen Klopstock nehmen und alles zerschlegeln. Mein Weib ist auch schon ganz entrückert. Aber man darf sich keinem Lutherleben hingeben. Etwas höchst Inkommodierendes beginnt jedoch seine aufgeräumte Stimmung zu beeinträchtigen. Er sieht sich um in Schillers Zimmer, mit wachsendem Verdruß. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Immer indignierter zupft er am Jabot. Was riecht denn hier so fatal? Donner und Doria! Wahrhaftig kaum auszuhalten. Als würde etwas dekomponieren hier. Ei wie! Der Weimarer Riese wankt, ihn schwindelt, eine Ohnmacht droht ihn zu erfassen, seine Hand tastet nach Halt. Endlich findet er das Zentrum des Übels. Er öffnet eine Lade von Schillers Schreibtisch. Sie ist voller verfaulter Äpfel.
    Charlotte klärt den Fassungslosen auf: Schiller benötige den Geruch bei der Arbeit. Es habe einen wohltuenden Effekt auf ihn. Es fördere seine Inspiration.
    Die gelassene Loyalität, mit der Charlotte den bizarren Fund erklärt, darin liegt das Wunder der Bedingungslosigkeit. Leda und er hatten wohl nie daran geglaubt, daß man mit den faulen Äpfeln in der Schublade des anderen glücklich werden kann.
    Nur eines schützt die Liebe vor Vergeblichkeit: Egoismus. Egoismus nämlich, der dem Ego des geliebten Wesens gilt. Ich-Kult mit dem anderen Ich. Die doppelte Ego-Sucht, die aus Liebenden ein Wesen macht, ein Wesen mit zwei unabhängig operierenden Zentren, ein Wesen, das Stärken und Schwächen hat wie jedes andere Wesen und doch wie niemand sonst – das war das einzige. Alles andere war nur Surrogat. Bedingungslos zu lieben, bedingungslos geliebt zu werden: heißt das etwa, daß man sich alle möglichen Nachlässigkeiten gönnen darf? Im Gegenteil: Nachlässigkeit ist schon das Ende der Bedingungslosigkeit. Aber die faulen Äpfel in der Schublade waren keine Nachlässigkeit Schillers. Sie waren Schiller.
    Tagsüber schuftete Aljoscha in Ledas neuer Wohnung, schabte Putz, strich Wände weiß; bei Nacht schrieb er an seinem Aufsatz über Sartre, Simone de Beauvoir und den Tod. Dazwischen kam ein Anruf.
    Der Anrufer hatte Aljoschas Zettel am Schwarzen Brett der Universität gefunden. Er hatte eine kleine Wohnung anzubieten, die geradezu lachhaft billig war. Leda und Aljoscha fuhren noch am selben Abend hin. Leda warnte ihn, nicht die erste Wohnung zu nehmen, nur weil es die erste war. Aber Aljoscha wußte, daß es die einzige Wohnung war. Dinge geschehen eben.
    „Ich hoffe nur, daß alles richtig ist, was wir tun“, sagte Leda, als sie vor dem Haus standen. Sie sah aus wie eine Frau am Rand der Klippen. Aljoscha nahm ihre Hand. Dann drückten sie die Klingel.
    Die Wohnung lag zweifellos im Parterre, hatte aber etwas seltsam Unterirdisches und Höhlenartiges. Die Eingangstür versteckte sich im Stiegenhaus unter einer steilen Treppe, und die zwei kleinen Zimmer schienen sich in den Grundriß des Hauses nicht recht einzufügen. Der Nochmieter der Wohnung erklärte geschäftig deren Vorzüge; Aljoscha hörte kaum hin. Hier wußte jeder Winkel längst, wer der neue Bewohner war. Die Bodenbretter boten ihre Dienste an, die Statik ächzte vor Genugtuung, die Schrauben der Türgriffe begannen sich lustvoll zu drehen. Aljoscha sah und hörte dies alles. Er schritt sein Territorium ab. Seine Besichtigung hier war reine Formalität.
    „Wollen wir so tun, als ob nichts wäre?“ fragte Leda, als der Abend vorrückte, fragte eine an den Fels gekettete Andromeda das Meer mit der Seeschlange, die kommen wird, um sie zu

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