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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Herren, wenn es um Albrecht Dürer gehen wird.“ Letzte Instruktionen von Botschafter Jerdzny. Hatten sie noch Sinn? Zu viele Fragen, viel zu lange schon. Rabenmutter Vernunft summt Fragen wie Schlaflieder, während sie den Brei des Herzens dosiert. Ein Tröpflein Verlegenheit, ein Löffelchen Gewissensnot dazu, zum Schutz gegen Versuchung. Und dann liest Rabenmutter Vernunft ein bißchen vor aus dem großen Buch der Borniertheiten, die einen behüten vor der unentzifferbaren Wahrheit des Schauerlichen.
    Aber wir haben nicht hingehört, mein guter Jerdzny. Wir empfangen Übertragungen in den Mittelpunkt des Kopf-Kreises. Wir sind Empfänger von Störungen. Aufgestört das Schauerliche in uns. Wir wissen, daß jedes starke Gefühl einen Kräftestrom verursacht. Das Phantastische hat keine andere Richtung mehr als das Reale. Wir fragen uns überhaupt, ob nicht das Reale das Phantastische ist. Rabenmutter Vernunft verschluckt Neutralreiniger und hat den Mund voll Sprechblasen, lustig anzusehen. Währenddessen suche ich meinen Körper ab: die Katze hinterläßt ihren Freunden immer einen Kratzer. Da muß ein Zeichen sein in meinem Angesicht. Sichtbar nur für einen ganz bestimmten Blick. Wie Zaubertinte an der Kerzenflamme. Ein Totemzeichen, Jerdzny, nicht wahr… seltsames Zeichen, das gar kein Zeichen ist, sondern nur Bedeutung.
    Wehe dem, der IHR Tabu bricht. Wer das Tabu übertritt, wird selbst tabu. Das leitet sich weiter wie elektrische Ladung. Sprich es endlich aus, Professor. Sag’s mit deinen kunstgerechten Worten. Eine pervertierende, transformierende, konvertierende Kraft, das ist SIE. Ich wünschte, du würdest nicht länger um den heißen Brei herum reden, Jerdzny. Aber ich verstehe dich. Was könntest du schon zeigen mit deinem albernen Projektor. Es gibt kein Dia von der Frau, die sich verwandelt, wenn ihre Leidenschaft geweckt wird. Es gibt kein Bild von der Verwandlung, die sie an ihrem Liebhaber vollzieht.
    Aljoscha hätte tausend Jahre schlafen mögen. Es war die Unabwendbarkeit des Bevorstehenden, die sich auf die Stunde legte. Aljoschas Herz schlug ruhig. Ergeben. Schlägt so das Herz eines Verurteilten in der Nacht vor seiner Hinrichtung? Wenn das Bewußtsein nach der permanenten Anspannung des Versuchs, sich das Unvorstellbare vorzustellen, schließlich überlastet kollabiert und nur noch dem Moment entgegen dämmert, in dem sie aufgerissen wird, die Eisentür…
    Vielleicht sähen sie sich im nächsten Semester wieder, wenn es um Albrecht Dürer ginge. Vielleicht sähen sie sich niemals wieder. Vielleicht war dies die letzte Metro. Vielleicht war dies IHR Abschiedsblick, endgültig.
    Also würden Leda und er schon bald wie befreit an die unselige Zeit denken können, die ab sofort zurücklag, Vergangenheit war, schon einzusickern begann in den Schlamm der Geschichte, und wenn sie noch zuweilen ihre sonderbaren Blüten treiben sollte, dann nur noch in seiner Erinnerung, im Gedächtnis eines Idioten, der schon immer mit allzugroßer Empfänglichkeit geschlagen war. Er hatte schon immer Dinge gesehen, die für andere nicht da waren. Aber jetzt hatte er geglaubt, etwas zu sehen, das nicht für andere war, wohl aber da, und nur für ihn bestimmt.
    Also wäre das Schauerliche aus der Welt. Da ging SIE, die Katzenmenschenfrau, langbeinig, spurlos, eine Geistererscheinung, nur irrlichternd in seinem Leben, zurück in IHRE mystische und metamorphe Einsamkeit.
    Schwäche? Welch Stärke muß man in sich finden für solch Schwäche.
    Kurz vor der Bahnhofstreppe hatte Aljoscha SIE erreicht. Er berührte SIE an der Schulter. SIE blieb stehen. Sah ihn an mit Augen wie glänzenden Steinen, halb edel und halb Tigerauge.
    „Ich weiß auch nicht, warum ich schon wieder hier bin“, sagte er. Mit „hier“ meinte er den Bahnsteig von Dobropol ebenso wie IHRE Nähe.
    „Das fragte ich mich auch soeben“, sagte SIE.
    Aljoscha beschrieb eine Kreisbewegung mit dem Arm, die in etwa den Weg des Kolumbus andeutete; was er damit meinte, war:
    „Wohnen Sie hier in der Gegend?“
    SIE begann langsam die Stufen hinabzusteigen, ohne ihn damit abzuweisen; im Gegenteil schien SIE ihn zur Begleitung einzuladen.
    „Ja.“
    Diese eine Silbe beschert zuweilen ein unsinniges Gefühl der Erleichterung. IHRE Antwort bedeutete ja bestenfalls, daß SIE an Dienstagnachmittagen hier niemanden besuchte. Als hätte SIE nicht an sechs Tagen in der Woche einen sinistren Grafen, drei Königssöhne, sieben Zwerge, einen heidnischen Stamm

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