Aljoscha der Idiot
zerreißen. Könnte sie doch treiben auf dem weiten Meer, das vor ihren Augen wogt. Treiben, so wie er es tat. Könnte sie die Sterne fragen nach ihrem geliebten Seemann. Könnte sie die Männer auf den großen Seglern fragen, ob sie ihn nicht sahen. Könnte sie doch taub sein, wenn die Männer ihr dann zurufen: nein, er ist nicht hier – wir haben ihn verloren – wir haben ihn verloren für immer. Könnte sie doch untergehen. Er ist fort, und ich will nie mehr einen anderen. Könnte ich doch untergehen in jenem Meer, in seinem Meer.
Und während sie so taten, als ob nichts war, blieb A*** noch immer eine Zweimillionenstadt, Dutzende von Vierteln, Labyrinth an Labyrinth; Aljoschas neue Wohnung aber war vom Haus der Katzenmenschenfürstin nur einen Steinwurf weit entfernt. Gott macht solche Angebote einmal. Der Andere kann es nicht gewesen sein. Der Andere bietet mehrmals an.
Nächte vergingen mit dem Sein und dem Nichts, während Aljoscha über Sartres Das Sein und das Nichts saß. Sartre schielte, aber er sah klar. Und darum behauptete er nicht: die menschliche Realität ist bedeutsam, weil sie fortwährend mit ihrer eigenen Zukunft verbunden ist. Sondern: die menschliche Realität ist fortwährend mit ihrer eigenen Zukunft verbunden, weil sie bedeutsam ist.
Das ließ Aljoschas Aufsatz etwas abschweifen. Wenn sich die Bedeutung unseres Tuns erst durch die Zukunft erschließt, schrieb er, heißt das durchaus nicht, daß man nicht genau wisse, was man tut. Andererseits könne man zwar wissen, daß man auf mysteriöse Weise zu lieben begonnen habe, doch die zukunftsverändernde Komponente einer solchen Gegenwart bleibt noch verhüllt. Alles ist zugleich vollkommen klar und vollkommen verhüllt, während die Vergangenheit einen immer neuen Sinn aus einer immer neuen Gegenwart ableitet. Im übrigen: man hat Zukunft wie noch nie, wenn die Gegenwart bedeutsam ist wie nie.
I’M STRICKEN WITH FEVER BUT
MY HEART IS STRONG AS STEEL
Dann kam die Nacht, in der Aljoscha träumte, daß er ein weinendes Mädchen durch einen Wald trug. Er hielt die Kleine so, daß sie den Kopf auf seine Schulter legen konnte, und ihr leises Schluchzen war alles, was er hörte. Manchmal hob sie den Kopf und sah ihn an, und auf ihren Wangen glitzerten die Tränen, aber es waren keine Tränen der Furcht. Es waren freiwillige Tränen, die wie Elfenperlen aussahen. Dunkel und gespenstisch war der Wald, doch Aljoscha wußte, es war der beste Schutz vor allen Schrecken, das Kind immer weiter zu tragen. Je öfter das Mädchen ihn ansah mit ihren glänzenden Augen, um so federleichter wurde sein Lauf über den Waldboden. Die zarten Arme, die sich um seinen Nacken schlangen, verliehen ihm märchenhafte Kraft. Wäre zwischen den Bäumen ein Gigant erschienen, er hätte ihn übersprungen. Wären Drachen aus dem Farn gekrochen, sein Blick hätte sie schaudern lassen.
Als Aljoscha erwachte, bemerkte er, daß er selber Tränen in den Augen hatte. Er ließ sie da für eine weltferne Minute, dann begann er zu überlegen. Das Kind war nur ein Bild. Wofür? Ledas Hoffen, schutzlos geworden? Aber die Kraft, die der Blick des Mädchens ihm verliehen hatte – das stille Einvernehmen, das den gefahrvollen Weg so erleichtert hatte – das Wissen, daß sie unzertrennlich bleiben würden, und daß Tränen zu Perlen werden, solange er lief – all das hätte dazu passen können,doch es paßte nicht. Was er da um keinen Preis im Stich lassen, um jeden Preis festhalten und schützen wollte, jenes kleine Wesen, das ihm so erstaunliche Vermögen und so ungeahnten Mut verlieh, war etwas anderes. Er hatte nur sich selbst durch den Traumwald getragen. Einen Teil von sich. Den, der noch so jung war und doch so vertraut. Sein Wesen.
Es gab Tage, da stürzte sich ihr Wir wie ein hungriger Wolf auf Leda und Aljoscha; es gab Tage, da verzagte es vor der ständigen Gefahr, dem stets präsenten Grauen, das Aljoscha rief wie dumpfe Trommeln in der Ferne. Es gab Tage, da sagte Leda: „Nur du kannst mich zum Lachen bringen“, es gab Tage, an denen jedes Lächeln auf ihren Lippen von vornherein klein beigab – und als würde etwas, das in eine Sackgasse geraten ist, nicht mehr umzukehren versuchen, so waren ihre Augen.
Aljoscha unterzeichnete den Mietvertrag. Der Vermieter ließ die Sache durch einen Pensionär regeln, der als Verwalter zu amtieren schien; ein knorriger Veteran, der zerstreute Kommandos gab. „Hunde sind verboten. Merken Sie sich das, Herr Puschkin. Kein Hund
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