Aljoscha der Idiot
Leben wäre alt, sie fürchtet, ihr fröstelndes Herz bleibt für immer kalt. Wer wird sie so sehen, wie sie ist? Wer durchschaut der falschen Augenblicke List?“
„Was ist denn das für ein gestelzter Mumpitz? Schreibst du Gedichte?“
„Ja.“
„Ach du Scheiße.“
„Und was weiter?“
„Dann habe ich die Ähnlichkeit zwischen den beiden immer weiter reduziert. Für deine Augen, meine ich.“
„Wissen Sie, es ging gar nicht um Einzelheiten der Physiognomie.“
„Ganz recht.“ Der Alte schnippte wieder mit den Fingern, und Irena Dubrovna war wieder da. Dann schnippte er wieder. Und wieder. Er schnippte und schnippte und ließ die beiden Frauen immer abwechselnd im Film erscheinen. „Hihi, sieh mal!“ Schnipp, schnipp, schnipp. Gott, was der alles konnte.
„Naja, brotlose Kunst“, sagte er endlich. „Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn.“
„Ich höre ja, Vater.“
„Die beiden sind sehr wohl vergleichbar. Nämlich in ihrer absoluten Nichtvergleichbarkeit. Kapierst du das?“
„Vollkommen.“
„Na, na?“ Der Alte bewegte neckisch den erhobenen Zeigefinger.
„Sie wissen sehr gut, daß ich es verstehe. Sie können doch Gedanken lesen.“
„Ja“, sagte der Alte, „und ich kann dir sagen, das ist verdammt langweilig. Eure Zukunft ist viel lustiger. Soviel kann ich dir jetzt schon verraten: eines Tages wird man sich gegen die Sehnsucht versichern lassen können!“
„Was soll denn daran lustig sein?“
„Du findest das nicht lustig?“
„Nein.“
„Du bist ziemlich pampig. Zieh den Kopf ein, da kommt ein Ereignisreiter vorbei.“
„Was?“ – Aljoscha zog den Kopf ein, als irgend etwas vorbeikam mit dem Geräusch eines auf etwa drei Meter Länge verkleinerten Düsenjets.
„Was sich entwickelt“, sagte der Alte, „war vorher eingewickelt oder verwickelt, aber da. Ist das soweit klar?“
„Schon.“
„Du hast nur die bivariate Ordinale von Othello 1 zu berechnen.“
„Das verstehe ich nicht, Vater.“
„Entschuldige… ich habe dich gerade mit jemandem verwechselt. Sag mal, was gefällt euch denn nun besser, Quellnymphen oder Wasserhähne?“
„Ich kann nicht für alle sprechen“, sagte Aljoscha. „Außerdem habe ich noch nie eine Quellnymphe gesehen.“
„Pech für dich“, sagte der Alte. Er wandte sich um. „Was ist denn da los?“ – Eine Schar seltsamer Kinder trieb einen schwarzen Widder vor sich her. „He, holla!“ rief der Alte.
„Papa, ich gehe zur Revolution!“ rief der schwarze Widder.
„Zum Neolithikum bist du zurück, sonst mache ich dir die Hölle heiß!“ rief der Alte.
Er wandte sich wieder Aljoscha zu und schien ein wenig verlegen. „Tja, der Schwarze“, sagte er. „Sie geben ihm lauter Nichts zu essen, da will man wohl zappelig werden.“
„Ich verstehe kein einziges Wort, Vater.“
„Du mußt das nicht als Rückenmarkslosigkeit auffassen, Junge.“
„Sie sind so schrecklich zerstreut!“
„In konzentrierter Form wäre ich zu mächtig.“
„Was soll ich denn jetzt tun?“
„In die Zimmer gehen, die dich erwartet haben, was sonst? Oder wolltest du dir noch einen Film ansehen? Ich könnte dich ans siebte Sonnenrad binden, von da aus hat man einen prima Blick.“
„Welcher Film läuft denn?“
„Ähm… Teufel im Leib .“
Aljoscha dankte.
Letzte Dinge trugen sich zu. Aljoscha trug die ersten Dinge in die Zimmer, die ihn erwartet hatten – ein paar Schallplatten, Geschirr und einen Band Gedichte von Majakowski. Er saß in seiner neuen Heimstätte und freute sich über die wilden Kräuter vor dem Fenster, über das Klavierspiel eines Hausbewohners und über die zwei Stufen zwischen der kleinen Küche und dem Zimmer, in das am Nachmittag ein paar Sonnenstrahlen schlichen und verlangten, daß die Tür- und Fensterrahmen verblassendblau gestrichen werden. Liebevoll untersuchte Aljoscha die Fußleisten, Qualitätsarbeit von Meister Verfall. Es gab viel zu tun hier. Viel. Es war eine Geheimstätte, und er würde ihre schlummernde Schönheit wecken. Und dann würde die geheime Stätte selbst entscheiden, ob Katzen hier verboten waren.
Früher oder später mußte es zur Begegnung kommen, damit hatte er gerechnet, nicht aber damit, daß es so früh sein würde. An einem der letzten Februartage kam SIE ihm auf einem grauen Weg entgegen. Aus den Rissen im Asphalt stiegen Seufzer auf, aus der harten Erde streckten Hände sich empor, die Verbannten und Verdammten reckten ihre Hälse, um nicht zu versäumen, wie SIE näher kam.
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