Aljoscha der Idiot

Jenseits, eingeschworen auf sein Dasein, auf sein Kommen, wartend auf den, der fand, verlor und wiederfand.
    Die Zeit verging schneller, als die Zeit vergeht. Urplötzlich war Frühling und es nahte der Beginn des Semesters, für das Jerdzny, das professionelle Orakel, ein Wiedersehen bei Dürer angekündigt hatte. Aljoscha holte den Zettel, den Katharina Rogowskaja ihm gegeben hatte, wohl zwanzigmal am Tag hervor, und zwanzigmal am Tag steckte er ihn wieder ein, ohne das zu tun, wozu ihn das Papier ermächtigte. Und zwanzigmal am Tag fragte er sich, ob er nicht in gerade diesem Augenblick alles verspielte. Und zwanzigmal am Tag sagte er sich dann, es war ja alles längst verspielt. Zwanzigmal am Tag hörte er Majakowski in Wir glauben es nicht: „Fort, Schatten, aus des Frühlings Angesicht.“ Zwanzigmal am Tag schreiendes Papier.
    Verspielt, zum Donner. Ein Spiel zu nennen, was schon zu Rembrandts Zeiten keines war, das vor allem war verspielt. Todernst von Anfang anforderte das Spiel jetzt mehr denn je den vollen Einsatz – aber Aljoscha war entweder allem voraus oder er hinkte hoffnungslos hinterher. Bei Nacht, doch nur bei Nacht, wagte er zu denken, daß SIE wartete – aber Nacht ist nicht das Gegenteil von Tag, sondern das Erzeugnis ungezählter Phantasien. Nacht ist alles, was im kalten Tageslicht nicht sein kann, und weil so vieles im kalten Tageslicht nicht sein kann, ist Nacht.
    „Wir waren doch schon im Sommer…“ – Worte wie geschürftes Gold, das einem den Verstand raubt. Wie hätte SIE diesen auf der Metrotreppe begonnenen Satz vollendet, wie? Was waren sie schon im Sommer? Aljoscha zahlte seine erste Rechnung für die Elektrizitätswerke, und die Frau hinter dem Schalter kniff die Augen zusammen, als er sie fragte, ob er das, was Strom verbraucht, nicht auch aus seiner eigenen Permanentverfassung speisen könne. „Was für eine Fassung?“
    Eben. Überhaupt keine. Das einzige, was helfen konnte, war die Arbeit in seiner neuen Wohnung, und sie half so gut wie nicht, und wenn er dann hinaus in die schon warmen Frühlingsabende trat, dachte er nur „Oh mein Schicksalsengel…“, gemäß seiner neuen Angewohnheit, Sätze nicht mehr zu vollenden, und vollendet hieß der Satz: „Werde ich einmal, was ich hier tue, für dich und mich getan haben?“ Darauf fuhr er zu Leda, in ihre neue Wohnung, wo sie zu Abend aßen und manchmal am Elbina-Fluß spazierengingen, dorthin, wo sich die Lichter der Docks im Wasser spiegelten, wo es sie zu allen Zeiten hingezogen hatte, vielleicht, weil es diese Geschichte von Seemann und Hafen gab – vielleicht. Aber jetzt war die Frau am Ufer eine Gefesselte, und der Punkt, der für Andromeda am Horizont erschien, war nicht das Boot, das den Geliebten wiederbringt. Jede Nacht schlang sich Andromedas Verlangen um die Schlange, die kam, um sie zu verschlingen. Die Seeschlange kam jede Nacht. Noch kam es anders jede Nacht.
    Und eines Morgens erwachte Leda neben ihm, richtete sich auf, schaute sich um in ihrem neuen Zimmer, schien es plötzlich zu lieben, fiel zurück in die Kissen und rief: „Ach, Aljoscha, du kannst immer alles!“
    HEATHCLIFF
    Nur eines
    IT’S ME CATHY COME HOME
    konnte er
    I’M SO COLD, LET ME IN
    nicht. Zwanzigmal am Tag.
    Den siebten Kopf nannte Pjotr Der Facettenkopf. Stilisierte Wahrnehmungsorgane sind über diesen letzten Kopf verteilt; von besonderer Bedeutung sind die Facettenaugen. Wie Insektenaugen setzen sie ihr Bild aus vielen einzelnen Segmenten zusammen, in Anpassung an den Facettenreichtum des sogenannten Wirklichen: gleichberechtigte Splitter, die zusammen ein kaleidoskopartiges Panorama des Gegenwärtigen ergeben. Zugleich ermöglicht das Facettenauge verschiedene Blickwinkel auf dasselbe Phänomen. Kein Filter paßt auf das Facettenauge. Es erkennt die Textur des Authentischen, es etabliert Präsenz im Präsens. Statt klassifizierender Perspektive Staunenkönnen, Staunenmüssen. Die Bedeutung dessen, was geschieht, unabhängig von allem, was geschehen ist oder geschehen soll, gründet im ent-täuschten Blick. Facettenwahrnehmung ist die Demut des Subjekts, der Anfang vom Ende des Objekts und das Organon eines aus Fälschungen entlarvten Ich, das sich aufschwingt zu überraschenden Manövern im Begrenzten Universum. Das Facettenauge sieht die Zwischengötter mit Kosmetika im Kosmos Ordnung schaffen. Das Facettenauge weint vor Glück.

33
    Es war der Siebte Morgen im April. Aljoscha wurde aus dem Bett geschleudert wie eine eruptive