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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Protuberanz aus der Sonne: Dürer-Dienstag! Er sah aus dem Fenster. So also sah der Tag aus. Seltsam still und scheinheilig. Wie ein Tag, der eine Gemeinheit plante. Der nur in Euphorie versetzte, um dann mit irgendeiner Tücke aufzuwarten. Guten Morgen, Herr Professor Pfropfnapf, wie geht es Ihnen? – Ach, junger Mann, junger Mann! Was für ein Tag! Da, auf dem Fußboden, sehen Sie? – Was ist das? – Etwas Unersetzliches! – Sie meinen die Pfütze, die der Hund da gerade aufleckt? – Jawohl! Athanasius nimmt gerade das Wasser der Verjüngung zu sich. Jahre und Jahre habe ich danach gesucht! Ich, Pfropfnapf, wollte der Welt die Formel schenken… ewige Jugend! Und ich hatte ihn gefunden, den Jungbrunnen… was für ein Tag! – Wie wunderbar und außergewöhnlich! – Aber nein, hören Sie doch! Alle Wege führten in die Irre, und vorhin packte mich der Dämon… blindwütig schüttete ich Essenzen zusammen, kümmerte mich nicht um Mengen, weiß nicht einmal mehr, wie viele Substanzen eswaren, geschweige denn welche… dann schluckte ich das Gebräu unter Flüchen… und als ich ein höhnisches Lachen anstimmen wollte, da, vor dem Spiegel… – Nein! – Doch! Ich war wieder ein junger Mann… für fünf Minuten! Für fünf Minuten! Sehen Sie nur, Athanasius ist wieder ein Welpe! – Aber wie kam es denn nur, daß… –
    Ganz einfach. In diesem Augenblick hatte Marie-France, die aufregende Assistentin, das Labor betreten, ein aufreizendes Guten Morgen gehaucht und sich dann ziemlich skandalös an ihrem weißen Kittel zu schaffen gemacht. Klirr. So ein Tag war das.
    Dünn, jedoch nicht dünn genug, um keinen Schatten zu haben, der zu ihm sprach „Du hast nicht ewig Zeit!“, eilte Aljoscha dem Hauptgebäude der Universität entgegen. Zwei Monate lang, wenn nicht jahrhundertelang, hatte er diesen Tag ersehnt und gefürchtet. Die Katzenmenschenfürstin hatte ihm sein Unternehmen, die Regeln des Rituals zu brechen, nicht nur verziehen, sondern mit einer Gabe belohnt, die ihm alle Brücken vergoldete… er hatte dieses Taschenkalenderblatt, das einen Brief mit tausend Worten an Bedeutung übertraf, wie ein heiliges Relikt behandelt, doch bis zur Stunde war Katharina Rogowskaja ohne jedes Zeichen von ihm. Was für Schlüsse hätte SIE wohl daraus ziehen sollen, wenn nicht peinliche, verfängliche, verquere?
    Aljoscha kam in den schon dicht besetzten Hörsaal und strebte abgelegenes Terrain an. Bewußtsein macht Feige aus uns allen und läßt uns Plätze aufsuchen, an denen wir inkognito sind. Kein Chor bestätigte den Mythos als heilige Geschichte. Kein Echo eines Echos wurde Ruf. Aljoscha suchte die Regionen ab, die er einst mit IHR geteilt hatte – und sah SIE nicht und fand SIE nicht, und sein Blick beschlug vor lauter Unterschied zwischen seiner Hoffnung und den Tatsachen.
    Er hatte es verspielt. Und er hatte es erwartet. Wie hätte SIE erscheinen können heute, hier, derart kompromittiert? Auf Gedeih und Verderb hatte SIE sich seinem Ehrgefühl anvertraut, und ihm war ja klar, in welche Gedankenstrudel er SIE mit seinem Schweigen, mit seiner Mißachtung IHRER Geste gestürzt haben mußte. Wenn SIE doch wenigstens nur fand, daß er ein Idiot war! Wieviel schlimmer, wenn SIE glaubte, er hätte jenes Stück Papier, das SIE ihm gegeben hatte, das Papier und alles, was es bedeutete, mit schäbiger Gleichgültigkeit behandelt – und wieviel schlimmer noch, wenn SIE jetzt fürchtete, daß er IHREN so vertrauensvollen Akt später in ein anderes Licht gesetzt hatte, daß ihm IHR gewagtes Geschenk im nachhinein als allzu leichtfertig, als eine frivoleOfferte erschienen war… was für ein unerträglicher Gedanke. Was für ein vollkommen unerträglicher Gedanke. Wenn solche Befürchtungen IHR Herz vergifteten, wenn SIE darum nicht gekommen war, dann war dieses jämmerliche Ende nur gerecht. Wenn sein Zartgefühl derart versagte, wenn er die Ehre einer Frau derart mit Füßen trat, mochte fortan seine Hirnschale einem Gott als Trinkgefäß dienen.
    Oder hatte IHR Fortbleiben einen ganz trivialen Grund? Vielleicht hatte ein schnöder Möbelwagen sie beendet, die göttlichste Zeit in seinem Leben. Und wenn, wohin war SIE gezogen? Es war ja völlig einerlei, wohin. Jede Sonne wäre da für SIE. Die Morgenröte wäre da für SIE, die Abenddämmerung, weißer Mond und schwarzer Mond, Maiblau und Oktobergold, Kerzenschein, Laternenlicht, der Tag, die Nacht, Heimat, Fremde, Budapest, Buenos Aires, Metropolen, Wüsten, ein

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