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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Auch gut. Ich weiß, wohin du schleichst, du schöne Schwarze. Ich weiß es wohl. Ich gebe dir ein Rätsel mit, du katzenhaftes Etwas! Überbringe es der Sphinx, sie kennt sich aus mit Rätseln! Hör zu, das Rätsel ist ein Diptychon! Es lautet so: wie lange kann man sich lieben, ohne sich zu verstehen? Und wie lange kann man sich verstehen, ohne sich zu lieben?
    Ja, wende dich ab, Katzenhaupt! Wende dich ab!
    Es war der achte Abend des April. Leda hatte einige Tage in N*** verbracht – um genau zu sein, sie war soeben von einer Tagung zurückgekommen, und ein hungriger Wolf fiel in den Schnee der Tundra. „Ich habe lange überlegt, was ich dir mitbringen könnte…“ Vermutlich hatte es ihr dann ein Flügeldämon gebracht. Sie schenkte Aljoscha eine Karte mit einem Gemälde von Dürer. Es hieß Pfeifer und Trommler.
    Leda erzählte von ihrer Reise, doch Aljoscha konnte sich kein Bild machen. Erzählte sie so, als ob es Aljoscha nichts mehr anginge? Oder hörte er zu, als ob es ihn nichts mehr anginge? Er dachte darüber nach und dachte, daß er darüber nachdachte, als ob es ihn nichts mehr anginge. Die Welt war tief, und tiefer als der Tag gedacht, und in dieser Tiefe schauten Leda und er sich verständnislos an. Diese Nacht schien dunkler als andere Nächte, und das Dunkel schien lebendiger als in anderen Nächten, es schien sich aufzubäumen mit dem Brüllen einer Mumie, direkt zwischen ihnen. Zwei Minuten vor Mitternacht sah Aljoscha auf die Uhr und dachte: Die Wände haben mich nicht verstanden.
    Sie liebten sich wie betäubt. Der Wunsch, durchzudringen – er blieb so eingeschlossen wie bei Schlafwandlern oder Komatösen. Die Haut war Grenze, die Augen waren wie mit einem viskosen Häutchen überzogen. Sie liebten sich, und es war wie das Zusammenlegen zweier Gefängnisse, deren Insassen meuterten und revoltierten. Dann wurde alles von der Nacht verschluckt.
    Aljoscha lag reglos da und fürchtete den Schlaf. Er fürchtete, daß dann das Seil ganz lautlos reißen würde. Wenn sie nur nicht schliefen jetzt…vielleicht gab es dann noch Rettung. Aber Aljoscha war schon viel zu müde, um zu sprechen. Ein Mann im Jesusgewand streckte seine Hände aus und sagte: Könnt ihr nicht einmal mit mir schlafen? Aber jemand verscheuchte den Verführer. Der alte Matthäus winkte. Nein, es war kein Winken. Der Alte beschrieb eine Kreisbewegung mit dem Arm. Ja, richtig. „Hier entlang, Kolumbus!“ rief er. Der Alte kam näher und wurde immer kleiner, während er näher kam. Als er vor Aljoscha stand, war er nur noch ein drolliger Gnom. Er fing an, Tonnen von Sand auf Aljoschas Augen zu schaufeln. Tonnen von Gnomsand. Matthäus als Gnom hatte etwas sehr Albernes in seine schlohweißen Haare eingedreht. Er krähte: „Der Verletzte macht das Licht aus!“ Schließlich war Aljoscha ganz mit Sand bedeckt. Nach einer Art von Kontraktion stellte er fest, daß er zum Fels geworden war. Das war nicht weiter störend, da auch Felsen Denkvermögen hatten. Er nahm sich vor, auf keinen Fall zu bröckeln.
    Es war ganz angenehm so. Man sah alles, man überstand alles, hunderttausend Jahre lang. Die Zeitmaschine kam vorbei, Rod Taylor am Steuerknüppel. Auch egal. Aber dann war da der Klang, der sprengt.
    Es waren die 11 Paukenschläge aus Le Sacre du Printemps. Und dann, langsameres Tempo, der Klang der hohen Absätze im Korridor. Aljoscha wußte, daß dieser Klang ein Handeln, das in ihm beschlossen lag, freisetzte. Er kannte von Anfang an das Ende, und wenn das sein Untergang war, dann konnte er ohne seinen Untergang nicht länger sein. Bröckeln. Gezwungensein zu Schritten. Aus der gesprengten Starre mit dem ersten Schritt über die Schwelle zwischen zwei Leben. Dem Klang nach. Das Ritual schreibt die Bewegung vor.
    Inzwischen kam Gott angefahren in einer verrosteten Planierraupe und bedeutete Aljoscha, aufzusteigen. Mit grummelnder Autorität fuhr Gott durch Maschendrahtzäune und ließ Aljoscha großzügig ein paar Sachen verstehen. „Ihr nehmt als Gesetz“, sagte er, „daß Schuld mit Unschuld Schluß macht. Wir können auch anders, weißt du. Und dann macht die Unschuld Schluß mit der Schuld.“ Was konnte man da sagen? Aljoscha verließ das Baustellenfahrzeug Gottes und bewarb sich als Strumpfnahtgeraderücker im Pariser Lido, doch herbeiströmende Interessenvertreter bemerkten, daß dies kein Traumberuf mehr sei.
    Wach bleiben, nur wach bleiben. Der Grund, aus dem er jetzt nicht schlafen durfte… der Grund… sank tief…

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