Aljoscha der Idiot
er sich schon zusammenreimen: Magie und Alchimie, ägyptische Geheimnisse, Symbolismus, Fetischismus, Vampirismus, Necronomicon, Dominanz, Felsbröckelkunde, Gestaltwandlung und Gegenspionage.
Am nächsten Morgen würde Aljoscha in einem vollbesetzten Hörsaal, in dem er gerade noch einen Platz in der ersten Reihe erwischt hatte, auf Professor Sosnowskis Vortrag über Freiheitstheorien warten, und an diesem nächsten Morgen hätte SIE beschlossen, von jetzt an auch Philosophie zu studieren; Aljoscha würde seinen Augen nicht trauen, doch SIE setzte sich auf einen Stuhl an der Frontwand wie Greta Garbo an den Tisch einer Hafenkneipe, 250 Augenpaare auf SIE gerichtet, dann erst würde SIE ihn ansehen und sich den Anschein geben, als ob SIE seine Anwesenheit erst jetzt bemerkte. Und in Aljoschas Hirn gäbe es ein lautes Krachen, weil auf diese Art, IHR gegenüber, zwei Stunden unmöglich zu überstehen waren, und darum gäbe es kurz darauf ein zweites Krachen, weil SIE, der gleichen Meinung, beschlossen hätte, in Sosnowskis Hirn den genialen Einfall zu erzeugen, in einen größeren Hörsaal umzuziehen. Und dort säßen SIE und er dann nebeneinander, und während sich Sosnowski zu den Theorien der Freiheit äußerte, hätte Aljoscha die Freiheit, mit der Katzenmenschenfürstin in einer Kutsche durch verschneite Wälder der Karpaten unterwegs zu sein. Wölfe heulten hinter ihnen, ein ganzes Pandämonium begleitete die Fahrt mit Rufen und Rückrufen, Aljoscha würde sich seiner schönen Begleiterin zuwenden und sagen: „Wissen Sie, Freiheit und Notwendigkeit sind nichts, das für sich genommen existiert“, und SIE würde antworten: „Da könnten Sie recht haben“, und IHR Atem und sein Atem, endlich ungestört nach tausend Jahren, würden sich vermischen. Und das Sternbild, das SIE als das IHRE angab, wäre Capricorn. Steinbock, wie man sagt. Wie man voraussagt, wenn man Der Weise Eremit ist. Und SIE wäre am selben Tag geboren wie Alphonsine Plessis, die Kameliendame – wie man voraussagt, wenn man eine gelblichbraun gewordene Blüte in Aljoschas Zimmer ist.
„Die von Saturn Beherrschten, sagt man, haben ein besonderes Gefühl für ihre Vorfahren… ist das wahr?“
„Sie meinen“, würde SIE antworten, „ob ich die Riten meiner Ahnen als schauerliches Erbe in mir trage?“
So würde es kommen, wenn SIE noch einen Schritt tat. Alles müßte neu erfunden werden, die Vollkommenheit, die Zeit, alle Gesten, alle Worte. Alle Gefühle wären noch ungefühlt. Alle Ordnung müßte nochmals neu geordnet werden. Spiegel würden nicht mehr taugen zum Spiegeln IHRER Schönheit, würden schlicht versagen vor dieser unerklärlichen Faszination, böten nur noch matten Abglanz oder würden einfach Liebestode sterben. Das Selbstverständliche müßte selbstverständlich ganz von vorn anfangen. Rimbaud müßte kommen und der Katzenmenschenfrau die Hand küssen.
Denn am Ende der Vorlesung würde SIE ihm das Buch zeigen, das SIE gerade las, und ihn fragen: „Kennen Sie Rimbaud? Lieben Sie seine Gedichte?“ Und weil Aljoscha einmal in Charleville Spuren von Lippenstift auf dem Grab Rimbauds gesehen hatte, müßte er ungläubig zurückfragen: „Ob ich Rimbaud liebe…?“ Am Abend würde er aus Rimbauds Eine Zeit in der Hölle, aus dem Abschnitt Das Unmögliche, dies auf eine Karte für die Katzenmenschenfürstin schreiben: Meine paar Groschen Verstand sind verspielt – Der Geist hat sich behauptet, er wünscht mich im Abendland. Ich müßte ihn mundtot machen, um meine eigenen Entscheidungen treffen zu können.
Und er könnte sicher sein, daß Katharina Rogowskaja diese Karte, wenn sie durch den Briefschlitz fiel, eigenhändig vom Parkett aufheben würde, denn er wüßte nun, daß SIE allein in IHRER Wohnung lebte.
Todsicher, so sicher, wie der Tod kein Toter ist, noch an diesem Abend Rückkehr in das Abendland, Ledaland der Elegien, Ledas Zimmer, Ort der Empfängnis jäher Einsamkeiten. Ledas Haar wie ein helles Segel im Sturm der schlechten Träume. Aljoscha würde sie in seinen Armen halten und hätte ihre Tränen. Er würde Leda küssen und hätte ihre Tränen. Er würde vor ihr stehen und hätte ihre Tränen. Ein Himmel wäre über ihr und hätte ihre Tränen. Alle Erwartungen versanken hier im düsteren Moor der Schuld. Aljoscha würde an die Vögel denken, die nachts vor Ledas Fenster schliefen, heimgesucht von Schrecken, die der Nachtwind trug. Hat man je gehört, daß noch nach Mitternacht ein aufgeschreckter
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