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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Gläser klirren! Und Aljoscha würde singen: Oh Gott ich war ein blinder Passagier, oh gottverdammt wie blind. Dann sah ich es in diesen Augen, im Meerblau dieser Augen. Ich kann nicht glauben, was ich sehe, ich kann nicht hoffen, es ist wahr. Meine zwei Groschen Verstand für eine Ballerina, Gott weiß, was ich fand in den Augen dieser Katharina.
    Und nach 14 Umläufen des Mondes säße Aljoscha immer noch da, seinen Vorrat an Klassikschallplatten betrachtend und überlegend, ob er seinem Vater zum sehr baldigen Geburtstag ein Potpourri zusammenstellen sollte. Was kam da in Frage? Strawinskys Paroxysmen sicher nicht,die Sache wäre damit schon verdorben. Die dritte Symphonie von Gustav Mahler? Auch nicht, was er brauchte. Aljoschas Vater liebte Klaviermusik. Vor allem liebte er Chopin. Aber der Schallplattenstapel enthielt nichts von Chopin. Jedenfalls würde er es mit Ledas launischem Recorder probieren müssen, denn sein eigener hatte komplett den Dienst quittiert.
    Am frühen Abend wüßte er dann, während er sein Telephon anstarrte: das letzte, was ihn jetzt noch hindern konnte, wäre ein Anruf von Leda in genau dieser Minute – oder ein Säbel, der ihm die Hände abhackte.
    Und Leda säße in ihrem Zimmer und würde argwöhnisch die Wände anschauen und sich fragen, warum die Wände Aljoscha nicht erwarteten. Die Wände schienen kalt und wissend. Diese Wände verheimlichten ihr etwas.
    Und Aljoscha würde Katharina Rogowskajas Nummer wählen und dreimal das Freizeichen vernehmen, dreimal schrillte der Alarm zwischen Vorhölle und Paradies –
    „Hallo?“
    „Hier ist Aljoscha Tuschkin. Wollen Sie mir das Leben retten?“
    „Wenn Sie mir sagen, wie?“
    „Besitzen Sie Chopin-Schallplatten?“
    „Ja. Warum?“
    Aljoscha würde IHR erklären, warum, und als erstes fiele IHR das zweite Klavierkonzert ein. Aljoscha würde SIE fragen, ob SIE auch Prélude Nr. 15 besäße, das sein Vater ganz besonders schätzte, und SIE würde sagen, ja, auch die 24 Préludes. Und dann würde SIE vorschlagen, sämtliche in IHREM Besitz befindlichen Chopin-Schallplatten zur nächsten Dürer-Vorlesung mitzubringen.
    „Das wäre die Rettung, wenn ich die Schallplatten nicht unbedingt heute brauchen würde.“
    „Heute noch?“
    „Ja.“
    Ein Augenblick der Stille, der in den Wüsten weiser Eremiten endete, er sähe sich selbst aus weiter Ferne, nur noch ein schwarzer Schatten zwischen ein paar Hügeln.
    „Gut, dann kommen Sie und holen Sie die Schallplatten.“
    Und wenig später würde Aljoscha, einen Plattenspieler und ein paar seiner eigenen Schallplatten im Arm, die Treppen zu Katharina Rogowskajas Wohnung emporsteigen, jenen Zoowärter im Sinn, der im wichtigsten Film, den er je gesehen hatte, sagte: „Zu den schwarzen Panthernkommt niemand, wenn er glücklich ist. Die Glücklichen besuchen die Vögel oder das Affenhaus.“ Und Katharina Rogowskaja würde in der Tür stehen und ihn ansehen mit der wehmütigen Unerbittlichkeit eines Vampirs. Und in IHRER Wohnung sähe er als erstes die Postkarte, die er IHR geschickt hatte, angelehnt an einen Kerzenleuchter, der auf einem Tischchen stand. Als zweites sähe er einen alten Sekretär mit Tintenflecken, von denen er sich fragte, ob sie aus dem 19. Jahrhundert stammten oder frischen Datums waren. Als drittes sähe er ein Ölgemälde an der Wand; der Dargestellte, ein Mann von Rang und Würde, blickte prüfend auf Aljoscha herab, als wollte er sagen: junger Herr, in diesem Hause haben Besucher anständig adjustiert zu sein.
    Und dann würde er mit Katharina Rogowskaja Schallplatten sortieren und wüßte bald schon nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war und ob es noch dieselbe Zeit war. Er würde, wenn SIE einen Vorschlag zur Musikwahl machte, dem Rhythmus IHRER Sprache lauschen, er würde IHR Lachen gewinnen, er würde nach den betäubenden Phantasien, die aus IHREN Blicken schimmerten, ein Leben lang dürsten.
    Und dann würde er erfahren, daß SIE das zweite Klavierkonzert von Chopin nicht hörte, um Musik zu hören, sondern um sich hinzugeben wie einem Morphiumrausch, in Erinnerung an das Glück des Wartens, an die Zeit vor der Gewißheit, nicht lieben zu dürfen; in Erinnerung an einen, der taub war für ein Herz, das alle Qualen erduldete, ohne sich je offenbart zu haben. SIE hörte diese Musik, um das Vergessen, das nicht kommen wollte, zu vergessen; um sich zu flüchten in gnädigen Wahn.
    Und obgleich der Teppich unter ihm plötzlich auf Wüstensand lag, in dem zu

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